Der Fremde

Erinnerung

Es war vor mehr als zwanzig Jahren im Volksbad, jenem ockergelben Jugendstilbad in München, ein normaler Samstagnachmittag, die Schwimmhalle war voll, die Umkleide auch, es waren viele Männer da. Einige versuchten miteinander verstohlen zu flirten, andere suchten nur Wasser und Schwimmen oder waren desinteressiert an den Blicken. Sah man von der Balustrade der Umkleide auf das Becken herunter, so sah man das Blau des Beckens, die prunkvollen Fliesen und die Schwimmer. Einige Besucher saßen auch am Beckenrand, wahrscheinlich genossen sie die Atmosphäre, die Schwimmer und den schönen Raum mit dem hohem Gewölbe.

Dann kam er. Man spürte seine Aura, ohne dass er schon da war. Plötzlich war alles still. In dem Gang erschien eine extrem breitschultrige Gestalt, glatzköpfig, stoppelbärtig und mit dunklen Teint. Man wagte es fast nicht, ihn anzuschauen, es war, als müsse man den Blick abwenden, weil zu viel an Macht und Präsenz heranschritt. Der massige Mann ging zügig, mit federnden Bewegungen und trug eine Tasche. Er betrat die Umkleide, alles war totenstill. Niemand bewegte sich, es war als wäre alles erstarrt und eingefroren. War es als ob physische Gegenwart eines gedopten Grizzlies den Raum erfüllte oder der chief executioner umgeben von vierschrötigen Kerlen mit Maschinengewehren den Raum beträte? Alle waren aus schierer Ehrfurcht erstarrt, manche hielten in ihrer Bewegung inne oder sahen ängstlich zu Boden. Der Fremde öffnete einen Schrank, seine behaarte Hand glich einer fleischigen Pranke, die jederzeit den Schrank oder einen Kopf zerdrücken konnte. Der Fremde bewegte sich langsam und sorgfältig, gemessen machte er sich frei und zeigte einen behaarten Rücken, der nur aus einer Wüste schierer Kraft zu bestehen schien. Die Arme glichen normalen Oberschenkeln, während die Beine nur als wüste Schenkelgebirge bezeichnet werden konnten.

Was mochte dieser Mann wiegen? Er war über Einsachtzig. Wog er 100 Kilo? Oder doch weit, weit mehr? Der Bauch war behaart und flach, die Brust ein einziger breiter Pelz, der sich über straffe Muskeln wölbte, und der Hals war kurz, aber breit, darüber ein Kinn, das aus einem Nussknacker für Kokosnüsse entnommen zu sein schien. Sorgfältig und bedächtig faltete der Fremde seine abgelegte Wäsche, als müsse er seinen Spind dem Unteroffizier zeigen. Dann schloß er den Schrank ab und versuchte das Band mit dem Schlüssel um sein Handgelenk zu nesteln, man sah in seinem kurz aufglimmenden Ärger, dass es kaum um die Handgelenke passte. Der Fremde nahm sein Handtuch und ging langsam und ohne sich umzuschauen zur Dusche. Das Schweigen blieb, es war immer noch so, als lägen die frisch abgeschnittenen Köpfe der Opfer in einer Blutlache am Boden. Alle Stimmen und Bewegungen waren immer noch wie erstarrt.

Irgendwann kam der Fremde wiegenden Schrittes die Treppe herab und erschien unten am Becken. Auch hier erstarben alle Geräusche. Selbst die Kinder waren still. Nur noch das Plätschern des Brunnens war zu hören. Die meisten Badenden verließen sofort das Schwimmbecken. Der Fremde setzte sich an den Beckenrand und sah auf das Wasser, wartete er noch ein oder zwei Minuten, bis alle das Becken verlassen hatten? Erwartete er, dass er alleine in dem Becken sein würde? Niemand sagte ein Wort, die Letzten schwammen auf einmal sehr zügig zum Beckenrand. Als das Becken leer war, wartete der Fremde noch ein wenig, die Wenigen, die noch in der Schwimmhalle geblieben waren, drückten sich an die Wände. Alles schien die Luft anzuhalten, high noon, die Stadt ist wie ausgestorben, die Strasse leer, die Hand ist am Colt, es war soweit. Endlich schwamm der Fremde los, tauchte unter und begann Butterfly zu schwimmen. In einer Explosion schierer Kraft wirbelten seine Arme das Wasser auf, Wellen schlugen an den Beckenrand und dann verschwanden die wirbelnden Arme in einer Wand aus Gischt und tosender Energie, hinter ihnen und dem Schwimmer wuchsen Wellen als hätte ein Zerstörer mit voller Kraft das Wasser durchquert und Heckwellen gleich Monstern geschaffen.

Der Fremde hatte das andere Ende des Schwimmbades erreicht und drehte sich um. Das Wasser schäumte noch im Becken als hätte ein Tornado gewütet, da wo Wasser war, füllten Wellen und Schaum das Becken. Der Fremde hielt inne und sah zu, wie sich das Wasser langsam beruhigte und die Schaumbläschen verschwanden. Der Blick war traurig, unendlich traurig und sanft, der Mann hatte große, milde braune Augen. Niemand bewegte sich, keine Stimme war zu hören, der Blick wirkte sehr einsam, sehr sanft und sehr traurig.

Dann schwamm der Fremde gemessen zurück und ging in die Umkleide.