Ränder der Neuzeit, Teil 4

Denken / Theologie

Es gibt eine merkwürdiges Zeichnung, die alle Vorstellungen der Linearität der Zeit über Bord wirft. Alles traditionelle Denken, das sich an der bisher bekannten Naturwissenschaft orientiert, erscheint obsolet. Vor dem zweiten Weltkrieg entstand eine grobe Skizze von Japan mit Kreisen an der Küste nördlich von Tokio. Daneben ist ein weiterer Kreis im Landesinneren, in dem eine Art Zeiger steckt. Über Japan beugen sich drei christliche Nonnen, sie haben Kreuze auf ihrem Habit. Unten, im Süden Japans, ist ein trauriger, eingefallener Kopf. Dazu gibt es einen Text, Japon – Ruidos de ruidos ensordeceráan las alturas. La bomba f. Im Süden Japans liegt Nagasaki, eine traditionell teilweise katholische Stadt. Der Abwurf der Atombombe ist nicht alles, was möglicherweise lange vor dem Ereignis skizziert wurde, denn dort, wo die vielen Kreise sind, liegt das zerstörte Kraftwerk von Fukushima. Der einzelne Kreis mit dem stilisierten Pfeil bezeichnet die Stadt Fukushima.

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Buddhas neue Uniform

Denken / Theologie

Im Sommer gab es eine Ausstellung mit Fotografien von Daido Moriyama im C/O Berlin. Die Fotografien sind wie Momentaufnahmen eines hässlichen Landes, einer grotesken inneren Welt und gleichzeitig eine große Meditation des Vipassana, weswegen hier ein fast zwanzig Jahre alter Artikel erneut zitiert wird:

Ostasien für die Mittelschicht: Der frische Reiniger aus Fernost.

Philosophien und Religionen sind wie Computerbetriebssysteme. Es gibt einige Oberflächen, die einander gleichen, manche Betriebssysteme erzeugen immer neue Oberflächen, andere immer identische, einige Softwaresysteme wie Linux und der Hinduismus werden als Shareware dezentral weiterentwickelt, andere, der orthodoxe Kommunismus etwa, der Lamaismus und die katholische Kirche sind zentral gelenkte Firmenprodukte — das Universum der Software, mit denen Menschen sich selbst und ihre Kultur programmieren ist riesig und weitläufig, auf fast allen Betriebssystemen läuft etwa die Applikation „good family“, oder kommt es zu dem Systemzerfall „Fundamentalismus total“. Die Spezialanwendung „cosmic orgasm“ ist nur mit dem Hinduismus kompatibel. „Der Kapitalismus liebt die Leistung“ läuft bei Protestanten und Buddhisten am besten und stürzt dagegen im Systembereich des Islam fast immer grauenhaft ab.

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Apenrots

Architektur / Fotografie

Die Dystopie des Kapitals: In Amsterdam Zuidas ist ein Bau entstanden, der wie ein überdimensioniertes Relikt aus einem düsteren Science Fiction Film wirkt.

Auf einem der teuersten Baugrundstücke der Niederlande ist neben gesichtlosen Bürokomplexen und einer Stadtautobahn samt Bahntrassen ein vielbeachtetes Bauwerk von MVRDV entworfen worden. Es ist die Vision einer Fluchtburg der Reichen, die weder Intimität noch Poesie aber die drei Türme einer Zwingburg kennt.

Apenrots, niederländisch Affenfelsen. Foto Nummer 5: © Stefan Hofmann

Die Verlorenheit der Hoffnung

Architektur / Kunst / Theologie

In der Apsis steht verloren die Statue eines Mannes, der winkend und sehr energisch auf Ankommenden zuzugehen scheint. Die Statue wirkt klein, fast verloren, steht aber mittig und zieht in dem kahlen Kirchenschiff alle Blicke auf sich. Sonst ist die Kirche weiß, man sieht ein Potpourri aus romanischen Bögen und barocken Fenstern. Aller Schmuck ist fort, der Boden ist aus hellem Kalkstein. Die Chorfester lassen durch Onyxmarmorfenster diffuses Licht herein. In den sonst absolut kahlen Seitenschiffen gibt es noch weitere barocke Plastiken und eine Kapelle mit einem Kruzifix. Alles andere ist fort, die wenigen kultischen Gegenstände sind klar und ebenfalls hellem Kalkstein.

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Westwärts

Fiction / Geschichte

Sie starrte kurz auf die Täfelung aus Eiche. Die helle Decke war mit feinen Rippen verziert und hatte überall Lampen. Zwischen den langen Tischen waren Reihen von Säulen. Dann nahm sie Karte zur Hand. APRIL 12. 1912, sie überflog die Zeilen, LUNCHEON, FROM THE GRILL. GRILLED MUTTON CHOPS, MASHED SOTAY & BAKED JACKET POTATOES, dann legte sie die Karte beiseite.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie. 
Louis sah auf.
»Du weißt doch, ich habe schlecht geträumt«, sagte sie.
»Du darfst dich nicht in Manie hineinsteigern«, sagte er und legte seine Hand begütigend auf ihre.
»Ist ihnen nicht gut?«
Die Frage stand plötzlich im Raum.
Die Tischnachbarin, eine freundliche Dame aus New York lächelte.
»Ein Albtraum, mehr nicht. Ich habe geträumt, unser Schiff ginge unter.«
»Das Meer hat immer eine unheimliche Seite«, sagte der Mann der Dame, »man ist immer ausgeliefert dem Unfassbaren. Aber jetzt, da wir auf einem dieser starken Dreischraubenschiffe sind, sollten sie keine Angst haben. Der Mensch ist dabei, die Naturgewalten endgültig zu bezwingen! Oder glauben sie, dass es Seen gibt, die bis an die Brückennock reichen?«
»Ja«, pflichtete der Gentleman aus Schottland bei, »wir fahren mit mehr als 20 Knoten pro Stunde. Das was früher auf der Mayflower Monate waren, sind jetzt Tage.«
»Und«, sagte seine Frau, »die Erste Klasse hat sogar einen Swimming Pool und wir können per Funktelegrafen Telegramme schicken!«
Der Mann aus New York pflichtete bei.
»Unser Schiff? Die Ingenieure haben es so meisterhaft entworfen, dass es mit voller Fahrt ein anderes rammen könnte, ohne die Schwimmfähigkeit zu verlieren. Selbst ein Dreadnought, der im Nebel von der Seite käme, könnte dieses Schiff nicht ernsthaft gefährden. Und wissen sie, wie die Maschinenräume aussehen?«
»Nein«, sagte Louis.
»Es sind Hallen wie das Innere eines Hüttenwerks.«
Die Kellner brachten die Vorspeise: Consomme Payanne und Pea Soup. Jetzt, da die See ruhig war, waren viele Plätze besetzt, obwohl die Passage nicht ausgebucht war. Vielleicht hatten viele Scheu, eine Überfahrt im April zu buchen, wenn es an Deck im Nordatlantik noch kalt sein mochte.
»Mein Bruder aber«, sagte der Gentleman aus Schottland, »der früher auf Segelschiffen gefahren ist, findet diese großen Ozeanriesen jetzt unheimlich. Die ganze Poesie des Meeres sei verschwunden, sagt er.«
»Ehrlich«, fragte Louis.
»Ja, das sagt er.«
»Das ist der Preis des Fortschritts,« warf die Dame aus New York in die Runde ein, »oder wollen wir noch in Höhlen leben und im Winter an Rauchvergiftung sterben?«

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Die betrunkene Dame

Fiction / Geschichte

Ich arbeite, sagte die ehemalige Redakteurin, als Schlossführerin in einem Haus mit mehr als 200 Zimmern. Ein Haus, das, als es 1769 fertiggestellt wurde, kein Bad und keine Toilette hatte. Manche Räume haben Wandbespannung aus Seide und Gold, abends sehen sie aus als seien sie frisch aus einem Märchen, auch wenn man weiß, dass jeder Spiegel, der damals mit einem Amalgam aus Quecksilber und Zinn bedampft wurde, die Arbeiter selten älter als vierzig Jahre werden ließ. Es ist, als hinge dort die Leichenhaut späterer Lampenschirme.

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Das Geflecht des Handels

Fotografie

Es gibt Orte, die das jetzige wirre Gefleht der Waren und Menschenströme verdichten und Bilder fassen. Wie Adern verlaufen Strassen und Schienen durch eine Umgebung, die so aussieht als habe man Verpackungsmaterial aufgeschichtet.

Am ehemaligen Strand Genuas (Bild 1) standen früher die Sommerpaläste der Reichen. Dort stellte 1607 Peter Paul Rubens Kontakte zu potentiellen Aufkäufern seiner Kunst her. Bild 7, © Stefan Hofmann

Claqueurinnen der Ohnmacht

Literatur

Es beginnt mit dem Anflug auf Dschiddha. Ein letzter Drink im Flugzeug. Frances hofft, von ihrem Mann abgeholt zu werden. Wenn nicht, sagt sie, nähme sie ein Taxi. Das ginge nicht, sagt der Steward, der die Gläser abräumt, einer Frau sei es verboten in ein Auto zu einem fremden Mann zu steigen. Aber, wirft Frances ein, das sei der Job des Taxifahrers, Leute zu befördern, oder? Und schon verliert Frances allen rechtlichen Status:

„You’re a woman, aren’t you? You’re not a person anymore.“ 

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Der verfrühte Text

Denken / Theologie

Kids wollen Indianer sein, keine Cowboys. Ich erinnere mich noch an den Siedlungsblock am Ende der Straße, wo wir Schulkinder spielten. Und weil es doch gleich viele Indianer wie Cowboys geben musste und alle alle Indianer sein wollten, gab es Streit. Gewürfelt wurde nie, die Cowboys waren immer die Dummen, körperlich Unfitten und Uncoolen. Also ich.

Lag das an Karl May, den ich wegen dieser Spiele nie gelesen habe?

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