Die Verlorenheit der Hoffnung

Architektur / Kunst / Theologie

In der Apsis steht verloren die Statue eines Mannes, der winkend und sehr energisch auf Ankommenden zuzugehen scheint. Die Statue wirkt klein, fast verloren, steht aber mittig und zieht in dem kahlen Kirchenschiff alle Blicke auf sich. Sonst ist die Kirche weiß, man sieht ein Potpourri aus romanischen Bögen und barocken Fenstern. Aller Schmuck ist fort, der Boden ist aus hellem Kalkstein. Die Chorfester lassen durch Onyxmarmorfenster diffuses Licht herein. In den sonst absolut kahlen Seitenschiffen gibt es noch weitere barocke Plastiken und eine Kapelle mit einem Kruzifix. Alles andere ist fort, die wenigen kultischen Gegenstände sind klar und ebenfalls hellem Kalkstein.

In der Nacht vom 24. zum 25. Februar 1944  brannte die Kirche St.Moritz in Augsburg aus. Der Wiederaufbau nach dem Krieg wirkte unschlüssig, so wurde die Moritzkirche in den Jahren von 2010 bis 2013 saniert und neu gestaltet. Der Entwurf stammt von dem Londoner Architekten und Designer John Pawson, der neben Aufträgen für sehr wohlhabende Klienten sich Sakralbauten widmet. Pawson verwendet immer eine reduzierte, minimalistische Formensprache und rückte die Plastik des Auferstanden von Georg Petel in die Mitte der Apsis.

Georg Petel stammte aus Oberbayern. Früh ging er auf Reisen, nach Italien, Paris und Antwerpen und lernte Peter Paul Rubens und van Dyck kennen. Später zog er nach Augsburg und heiratete in eine angesehene Familie. Als die kaiserlichen Truppen im Dreißigjährigen Krieg Augsburg belagerten starb er, wohl vierunddreißig Jahre alt, an der Pest.

Jetzt wirkt in der reduzierten Strenge des Kirchenschiffes die Figur des Auferstanden von Georg Petel klein und trotzdem absolut präsent: so als müsse man weit gehen, um den Auferstandenen zu sehen. Durch die Klare des Kirchenschiffs werden die Brüche der Zeit sichtbar, die Atmosphäre wirkt kühl, konzentriert und streng, es gibt keine Vision des Himmels mehr, sondern nur noch die kleine Gestalt dessen, der weit entfernt entgegenkommt.

Westwärts

Fiction / Geschichte

Sie starrte kurz auf die Täfelung aus Eiche. Die helle Decke war mit feinen Rippen verziert und hatte überall Lampen. Zwischen den langen Tischen waren Reihen von Säulen. Dann nahm sie Karte zur Hand. APRIL 12. 1912, sie überflog die Zeilen, LUNCHEON, FROM THE GRILL. GRILLED MUTTON CHOPS, MASHED SOTAY & BAKED JACKET POTATOES, dann legte sie die Karte beiseite.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie. 
Louis sah auf.
»Du weißt doch, ich habe schlecht geträumt«, sagte sie.
»Du darfst dich nicht in Manie hineinsteigern«, sagte er und legte seine Hand begütigend auf ihre.
»Ist ihnen nicht gut?«
Die Frage stand plötzlich im Raum.
Die Tischnachbarin, eine freundliche Dame aus New York lächelte.
»Ein Albtraum, mehr nicht. Ich habe geträumt, unser Schiff ginge unter.«
»Das Meer hat immer eine unheimliche Seite«, sagte der Mann der Dame, »man ist immer ausgeliefert dem Unfassbaren. Aber jetzt, da wir auf einem dieser starken Dreischraubenschiffe sind, sollten sie keine Angst haben. Der Mensch ist dabei, die Naturgewalten endgültig zu bezwingen! Oder glauben sie, dass es Seen gibt, die bis an die Brückennock reichen?«
»Ja, pflichtete der Gentleman aus Schottland bei, wir fahren mit mehr als 20 Knoten pro Stunde. Das was früher auf der Mayflower Monate waren, sind jetzt Tage.«
»Und«, sagte seine Frau, »die Erste Klasse hat sogar einen Swimming Pool und wir können per Funktelegrafen Telegramme schicken!«
Der Mann aus New York pflichtete bei.
»Unser Schiff? Die Ingenieure haben es so meisterhaft entworfen, dass es mit voller Fahrt ein anderes rammen könnte, ohne die Schwimmfähigkeit zu verlieren. Selbst ein Dreadnought, der im Nebel von der Seite käme, könnte dieses Schiff nicht ernsthaft gefährden. Und wissen sie, wie die Maschinenräume aussehen?«
»Nein«, sagte Louis.
»Es sind Hallen wie das Innere eines Hüttenwerks.«
Die Kellner brachten die Vorspeise: Consomme Payanne und Pea Soup.
Jetzt, da die See ruhig war, waren viele Plätze besetzt, obwohl die Passage nicht ausgebucht war. Vielleicht hatten viele Scheu, eine Überfahrt im April zu buchen, wenn es an Deck im Nordatlantik noch kalt sein mochte.
»Mein Bruder aber«, sagte der Gentleman aus Schottland, »der früher auf Segelschiffen gefahren ist, findet diese großen Ozeanriesen jetzt unheimlich. Die ganze Poesie des Meeres sei verschwunden, sagt er.«
»Ehrlich«, fragte Louis.
»Ja, das sagt er.«
»Das ist der Preis des Fortschritts, sagte die Dame aus New York. Oder wollen wir noch in Höhlen leben und im Winter an Rauchvergiftung sterben?«

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Die betrunkene Dame

Fiction / Geschichte

Ich arbeite, sagte die ehemalige Redakteurin, als Schlossführerin in einem Haus mit mehr als 200 Zimmern. Ein Haus, das, als es 1769 fertiggestellt wurde, kein Bad und keine Toilette hatte. Manche Räume haben Wandbespannung aus Seide und Gold, abends sehen sie aus als seien sie frisch aus einem Märchen, auch wenn man weiß, dass jeder Spiegel, der damals mit einem Amalgam aus Quecksilber und Zinn bedampft wurde, die Arbeiter selten älter als vierzig Jahre werden ließ. Es ist, als hinge dort die Leichenhaut späterer Lampenschirme.

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Das Geflecht des Handels

Fotografie

Es gibt Orte, die das jetzige wirre Gefleht der Waren und Menschenströme verdichten und Bilder fassen. Wie Adern verlaufen Strassen und Schienen durch eine Umgebung, die so aussieht als habe man Verpackungsmaterial aufgeschichtet.

Am ehemaligen Strand Genuas (Bild 1) standen früher die Sommerpaläste der Reichen. Dort stellte 1607 Peter Paul Rubens Kontakte zu potentiellen Aufkäufern seiner Kunst her. Bild 7, © Stefan Hofmann

Rasender Stillstand

Denken / Literatur

Das Eigenartige bei der Diskussion um KI, künstliche Intelligenz, ist, dass übersehen wird, dass KI zutiefst konservativ ist. Die wohltemperierte Musik, die sie schreiben wird, die unglaublich äthetischen Bilder, die sie errechnen wird, alles wird sich innerhalb der Parameter bewegen, die ihr vorgeschrieben worden sind. Auch wenn ihr der gesamten Schatz an Bildern, die Menschen je geschaffen haben, zur Verfügung stünde, würde sie nie über das hinaus gehen, was ihr als Fundus vorliegt: Sie würde nichts als rasenden Stillstand schaffen.

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Claqueurinnen der Ohnmacht

Literatur

Es beginnt mit dem Anflug auf Dschiddha. Ein letzter Drink im Flugzeug. Frances hofft, von ihrem Mann abgeholt zu werden. Wenn nicht, sagt sie, nähme sie ein Taxi. Das ginge nicht, sagt der Steward, der die Gläser abräumt, einer Frau sei es verboten in ein Auto zu einem fremden Mann zu steigen. Aber, wirft Frances ein, das sei der Job des Taxifahrers, Leute zu befördern, oder? Und schon verliert Frances allen rechtlichen Status:

„You’re a woman, aren’t you? You’re not a person anymore.“ 

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Der verfrühte Text

Denken / Theologie

Kids wollen Indianer sein, keine Cowboys. Ich erinnere mich noch an den Siedlungsblock am Ende der Straße, wo wir Schulkinder spielten. Und weil es doch gleich viele Indianer wie Cowboys geben musste und alle alle Indianer sein wollten, gab es Streit. Gewürfelt wurde nie, die Cowboys waren immer die Dummen, körperlich Unfitten und Uncoolen. Also ich.

Lag das an Karl May, den ich wegen dieser Spiele nie gelesen habe?

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Der Albtraum

Denken / Fiction

Es war wieder der Alte, der mich diesmal wieder gefunden hatte.

Dieser böse alte Mann, der mit sich eine Hündin führte. Ich sah ihn kommen, gleich würde er sich neben mich setzen und mit der Verbissenheit eines verbitterten Menschen mir seine Verschwörungstheorien verkaufen. Ich kam aber nicht weg, es war mir als müsste ich auf dieser Bank kleben und konnte nicht aufstehen. Es war zu spät, die zudringliche Besserwissererei des Alten kam immer näher, ich war wie gelähmt. Ich blieb sitzen, ich war allein, schon die Nähe des Alten würde mich von meiner Umgebung entfernen. Knotige Hände fuchtelten in der Luft, es war kalt und wahrscheinlich näherte sich eine feuchte Hundeschnauze mir hinter meinem Rücken und ich würde wieder dieser feuchten Attacke ausgesetzt sein.
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Empathie an das Verlieren

Erinnerung / Kunst

Es war eine der Ausstellungen, die auf den ersten Blick verloren wirkte. Die Werke hingen in einem temporär unbenutzten ehemaligen Verkaufsraum in Zehdenick, einer langsam sich entvölkernden Kleinstadt 60 Kilometer nördlich von Berlin. Der Verkaufsraum hatte sichtbar bessere Tage hinter sich, einige der häßlichen Platten, mit denen die Decke verschalt war, fehlten und gaben den Blick auf das Innenleben der Decke frei. An der blassgelb und pink gestrichenen Wand hingen Gemälde. Man sah immer wieder Ansichten eines Tisches mit überquellendem Aschenbecher, einer brennenden Kerze auf einem Stalagmit aus Wachs, Bierflaschen und Büchsen. An der Wand des gemalten Raumes hingen Bilder, sorgfältig arrangiert, auf Regalen lagen CDs, einmal standen am Boden abgetragene Turnschuhe und immer wieder erschien ein alter, vorsintflutlicher Fernseher.

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