Wird man zur Einschüchterung offen überwacht, wie es Herr Demand sagt, der in seiner Jugend als Sympathisant galt?
Ich bin höflich zu ihm und lasse ihn reden. Jede seiner Liebschaften sei wochenlang vom westdeutschen Geheimdienst beschattet worden, das habe ihn fast zu militanter Aktion bringen können, aber für den Untergrund habe er sich nie wirklich entschließen können, man war Boheme und wie viele der radikalen Linken der Siebziger aus der Mitte der Mitte der Gesellschaft gekommen. Man wäre doch eine gewisse Lebensperspektive gewöhnt gewesen, Bader war ein gut aussehender Macho mit Lederjacke und Mercedes, Callboy sagen einige, Frau Meinhof eine sehr kluge und attraktive Journalistin und Holger Meins begabter und, last not least, schöner Mann, ein Filmemacher, dessen frühere Freunde steile Karriere gemacht haben.
Die Polster von Herrn Demand sind alt und längst verblichen. Mein Gastgeber ist um mich besorgt, er steht in der Küche und macht Filterkaffee. Er hustet und geht langsam mit watschelnden Schritten herein, wobei auf dem Tisch bereits eine Packung filterloser Zigaretten angebrochen ist, seine zweite an dem Tag. Die Vorhänge und die Wände sind gelb von Nikotin, überall liegen Bücher, nochmals Bücher und Zeitschriften. Historie, Soziologie und Theater, nur wenig Hinduismus und kalifornische Bewusstseinserweiterung, dazu eine Ausgabe von Rom, Blicke, den Tagebüchern Rolf Dieter Brinkmanns und die Doppelbände der Männerphantasienvon Klaus Theweleit. An der Wand hängen Fotografien von Rainer Werner Fassbinder sowie die einer jungen Frau und eines jungen Mannes, die ich beide nicht kenne. Daneben eine Schar Patienten aus der Psychiatrie, die in schlechten Kostümen auf einer Art Bühne postiert sind, dazu junge Leute, die Männer tragen Schlaghosen und haben Koteletten, die Frauen Miniröcke.
Es muss ein Foto aus den Siebzigern sein, als Herr Demand das Kollektiv Cuba Libre in Schwabing leitete, das aus Studenten und Insassen der Psychiatrie bestehend Theater der Befreiung in den neu entstandenen Fußgängerzonen der westdeutschen Städte probierte, in Frankfurt, Köln und München. In der Mitte der Gruppe Herr Demand, damals schlank, mit kurzen Haaren, Koteletten und Brille, ein schöner Mann. An der Tür ein Foto, das aus einem Aufklärungsbuch für Jugendliche entnommen worden zu sein scheint und als Poster aufgezogen worden ist, ein nacktes Paar sitzend, mit nacktem Sohn. Neben dem Jungen, der vielleicht fünf oder sechs Jahre alt ist, baumelt Vaters Genital. Der Mann mit dem Genital ist Herr Demand, jugendlich noch, mit einem schütteren Bart und langen Haaren, und einer leicht behaarten Brust, nicht unsportlich, aber mit Brille. Von der Textzeile ist nur noch das Jan übrig, das vermutlich sich auf den Sohn bezieht, denn der untere Teil des Bildes ist abgeschnitten.
Was würde ich denken über dieses Bild? Es dürfte so heute nicht mehr publiziert werden, wie Herr Demand mir erläutert, weil es zu unsittlichen Handlungen an Kindern anregen könne. Kindesmissbrauch sozusagen, Herr Demand wird emotional, am Kindesmissbrauch entscheide sich, ob die Zukunft eine Freiheitsgeschichte habe oder nicht, man habe den Kindesmissbrauch als ultimative Waffe in dem gesellschaftlichen Rollback entdeckt. Wer würde denn heute noch sagen, man müsse Kinder in die Lage versetzen, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren? Wer wolle den Kleinen heute noch eine Sprache an die Hand geben, die es ermöglichen würde, über Sexualität zu sprechen? Es sei doch damals um die Emanzipation der Kinder gegangen, die ohne Sprachverbote in der Lage sein sollten, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren!
Nun setzt er sich, wie einer der vielen Linken, die alt werden und immer auf der richtigen Seite standen, um, wie es in einem Bonmot heisst, trotzdem zwischen abgegriffenen Schallplatten und verstaubten Büchern zu sterben.
Vermutlich hat Herr Demand einen Schlaganfall gehabt, das Gesicht ist fast unmerklich verzogen und die Linke etwas langsamer in den Bewegungen als die Rechte. Was bleibt von der Utopie, wenn die eigentlichen Gegner Krampfadern, zittrige Hände und Inkontinenz sind, wenn der Verfall des Fleisches grausamer ist als der Verfall des gesellschaftlichen Körpers? Wenn das Leben keineswegs vergeht wie eine Spur im Sand, wie es Foucault beschrieben hatte?
Textauszug aus Baarucka oder die Gasse der Blinden, Kap.: 25. Februar 2001, etwaige Ähnlichkeiten von Herrn Demand mit lebenden Personen wären rein zufällig.