Wir blickten auf die Saône, die breit und träge an der mittelalterlichen Stadt vorbei floß. Auf dem Strom lagen Yachten an Stegen vertäut, offenbar mieden die Skipper die gefährliche herbstliche Fahrt durch die Biskaya um ins Mittelmeer zu kommen. Der Bruder, mit dem ich den Ausflug machte, schaute auf die Schiffe, wir tranken Kaffee und aßen Kuchen, den wir mitgenommen hatten. Auf einmal fragte er mich, welche der Yachten wohl seegängig sei, er wusste, ich hatte früher Wochen auf hoher See verbracht. Ich antwortete, das hinge von Ballast und Unterwasserschiff ab, aber die Antwort lief ins Leere. Ich spürte die leise feine Sehnsucht des Bruders, obwohl er in Spanien und Südamerika gelebt hatte, aber ich redete nicht weiter. Es war alles gesagt, vor uns glitzerte die Saône im Herbstlicht, ich spürte die unausgesprochene Sehnsucht und Verletzlichkeit meines Begleiters, obwohl dessen breite Schultern so wirkten, als gäbe es kein Hindernis für sie.
WeiterlesenDie Schönheit der Medizin










2 Bauten der Charité, deren Abriss geplant war und die in ihrer völlig unterschiedlichen Gestaltung Zeugnisse hervorragenden und mutigen skulpturalen Umgangs mit Beton sind:
Zentrale Tierversuchslaboratorien (1971–80, heute: Forschungseinrichtung für Experimentelle Medizin, FEM), Architekten Gerd und Magdalena Hänska. Ein herausragendes Beispiel des Brutalismus in Deutschland.
Das ab 1966 geplante und bis 1974 gebaute Institut für Hygiene und Mikrobiologie (heute: Institut für Hygiene und Umweltmedizin). Architekten Fehling+Gogel.
Bis heute ist es praktisch im Originalzustand – eine Zeitkapsel seiner Bauzeit.
Update 2025: beide Bauten stehen unter Denkmalschutz
Samenspender
Da steht Luise jetzt in dem Zimmer und weiß nicht, wie sie sagen soll, was sie getan hat. Ihr Freund sitzt am Schreibtisch und geht noch wie immer die Emails durch, die er in nicht im Büro hatte bewältigen können. Sie könnte ihm noch einen Tee machen und sich neben ihn setzen, aber er wird wohl nur sagen, er habe noch zu tun. Es ist spät, aber beide haben nicht zusammen gegessen, weil er noch in einer Sitzung sein musste, da der neueste Pitch vorbereitet werden musste. Es sei jetzt viel zu tun, sagt er, die Herbstkampagnen müssten vorbereitet werden und jetzt sei dieser Pitch dazugekommen, der die Agentur auf ein neues Level heben würde. Ihr Freund wird jetzt noch bis spät in die Nacht da sitzen, gebeugt über sein Macbook, es gehe, wie er kurz gesagt hatte, um irgendein digitales Projekt, aber Luise hatte nicht zugehört, wie denn auch, nach dem, was heute geschehen war. Warum merkt er nichts, sagt sie sich, Markus müsste es doch spüren, natürlich spürt man es bei einer Frau, vor allem bei einer Frau, mit der man Bett und Wohnung teilt.
WeiterlesenDas Beharren der Institutionen
Es war Herbst, eigentlich zu spät für den hölzernen Segler
der mit 276 Personen an Bord ähnlich überladen wie heutige Flüchtlingsschiffe vom Südosten Kretas auslief um längs der Küste nach Westen nach Phoinix, das gängigerweise im Westen Kretas vermutet wird, zu segeln. Man stritt sich vor dem Auslaufen, ob die Passage nicht zu gefährlich sei, aber der Hauptmann, der den Gefangenen nach Rom bringen sollte, wollte an Bord. Der prominente Gefangene warnte eindringlich vor dem Auslaufen, ein Motiv, das an Starbuck von Melville erinnert. Man lief aus, der Leser ahnt es, es wird nicht gutgehen. Als der Segler in See war steigerte sich der Wind zu einem veritablem Sturm aus Nordost, die Segel mussten eingeholt werden, mit Mühe konnte das Beiboot an Bord geholt werden, die Besatzung band Taue um das Schiff, um es am Zerbersten zu verhindern, warf einen Teil der Schiffsausrüstung über Bord und laschte die Ruder fest.
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Struktur des Alltäglichen
El Anatsui. Triumphant Scale, Haus der Kunst. Objekte des Alltäglichen verdichten sich bei El Anatsui zu massiven Formen, die in ihrer Fluidität der Natur gleichen.






Der Fremde
Es war vor mehr als zwanzig Jahren im Volksbad, jenem ockergelben Jugendstilbad in München, ein normaler Samstagnachmittag, die Schwimmhalle war voll, die Umkleide auch, es waren viele Männer da. Einige versuchten miteinander verstohlen zu flirten, andere suchten nur Wasser und Schwimmen oder waren desinteressiert an den Blicken. Sah man von der Balustrade der Umkleide auf das Becken herunter, so sah man das Blau des Beckens, die prunkvollen Fliesen und die Schwimmer. Einige Besucher saßen auch am Beckenrand, wahrscheinlich genossen sie die Atmosphäre, die Schwimmer und den schönen Raum mit dem hohem Gewölbe.
WeiterlesenStreet Art in Marseille






Sinnsuche der Funktionselite
Der junge Mann aus Nordafrika war ein ausgebildeter Rhetoriker,
der als raetor für den Kaiser arbeitete, also, wie wir heute sagen würden, als Pressesprecher des Präsidenten fungierte. Klug war er ohnehin, sexy auch (in seiner Autobiografie erwähnt er den Stolz des Vaters, einen so wohlgebauten Sohn zu haben, als sein Vater ihn als Teenager in der Badewanne gesehen hatte) und eine Heirat in eine der führenden Adelsfamilien war anvisiert. Die langjährige Geliebte, mit der er einen Sohn hatte, sollte verstoßen werden, das Projekt, das ihn, den Berbersohn aus Nordafrika, in die führenden Kreise des Imperiums bringen sollte, erforderte wohl gewisse Zielkorrekturen im Bereich des privaten Lebens. Wir müssen uns einen brillanten, bildschönen und äußerst ehrgeizigen Yuppie vorstellen, klar wie Eis, der sich wie ein Fisch im Wasser innerhalb der Funktionselite am Hofe und in Mailand bewegt. Trotzdem litt der junge Mann an Zweifeln, nicht an sich, da gab es nichts zu Zweifeln, sondern an dem Glück, das er suchte. Als er einen betrunkenen Bettler sah (Conf. VI 6), stürzte ihn das in eine Krise, nicht weil er von Mitleid überrannt wurde (Mitleid tut Funktionseliten als Funktionseliten nicht gut), sondern weil er seine Ziele überprüfen musste. Was, fragte Augustinus sich, sind sein Glück, sein Streben wert, wenn dieser Bettler dasselbe mit Hilfe einer Flasche Wein erreicht? Warum müht er, Augustinus, sich, so volatile Dinge, wie Ruhm und Geld, zu erwerben? Sind die nicht längst vergänglich? Da ist er dreißig Jahre alt, umgeben von Freunden, die ihn bewundern, und längst fest im Leben. Er hat ja alles, glänzende Karriere, die materiellen und familiären Güter, die noch ausstehen mögen, sind in Reichweite – dann wechselt der Kurs seines Lebens um 180°.
WeiterlesenWeisse Elefanten der Moderne
In den Zwanziger Jahren gab es erste Projekte, die Autostrassen als Teil eines funktionalen Fortschrittes begreifen wollten und Büro- und Wohnhäuser so konzipierten, dass sie Strassen als Querriegel überspannten. Das Büro des Rektors im Bauhaus zu Dessau sollte auf eine befahrene Strasse herabblicken, ebenso ein Querriegel in der Weißen Stadt in Berlin, die am Ende der 1920er Jahre für soziale Zwecke nach dem Städtebauentwurf von Otto Rudolf Salvisberg erbaut wurde. Das Auto, das bis dahin nur ein Verkehrsmittel der Wohlhabenden war, sollte nun Vision des neuen, beweglichen Menschen sein. Die Charta von Athen postulierte 1933 eine Trennung verschiedener städtebaulicher Zonen, nachdem Le Corbusier das mit dem utopischen Plan Voisin, für den ein Teil der Pariser Altstadt abgerissen werden sollte, vorweggenommen hatte. In der Radikalität, mit der das Alte negiert werden sollte, liegen Parallelen zu den gesellschaftlichen Umwälzungen, die totalitäre Regime durchführten.
WeiterlesenStadt der Träume










Es gibt in dieser untergehenden Stadt, in deren oberen Geschossen die Fenster nachts zumeist dunkel sind und in der sich tagsüber Touristenmassen durch Gassen voller Restaurants und Cafés samt Ramschläden von Pakistanis mit Krimskrams und Kitsch für Touristen quälen, seit mehr als einem Jahrhundert die Biennale, verteilt in einem Park und einer ehemaligen Werft für Galeeren.
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