Das Beharren der Institutionen

Geschichte / Theologie

Es war Herbst, eigentlich zu spät für den hölzernen Segler

der mit 276 Personen an Bord ähnlich überladen wie heutige Flüchtlingsschiffe vom Südosten Kretas auslief um längs der Küste nach Westen nach Phoinix, das gängigerweise im Westen Kretas vermutet wird, zu segeln. Man stritt sich vor dem Auslaufen, ob die Passage nicht zu gefährlich sei, aber der Hauptmann, der den Gefangenen nach Rom bringen sollte, wollte an Bord. Der prominente Gefangene warnte eindringlich vor dem Auslaufen, ein Motiv, das an Starbuck von Melville erinnert. Man lief aus, der Leser ahnt es, es wird nicht gutgehen. Als der Segler in See war steigerte sich der Wind zu einem veritablem Sturm aus Nordost, die Segel mussten eingeholt werden, mit Mühe konnte das Beiboot an Bord geholt werden, die Besatzung band Taue um das Schiff, um es am Zerbersten zu verhindern, warf einen Teil der Schiffsausrüstung über Bord und laschte die Ruder fest.

Vierzehn Tage, so der historische Bericht, trieb das Schiff unter eingeholten Segeln auf dem Meer, wahrscheinlich brachen immer wieder Brecher an Deck, Regenschauer prasselten herab und die Passagiere lagen und sassen dichtgedrängt und elend an Deck, mangels Funktionskleidung zitternd vor Nässe, Kälte und Angst, vielleicht auch noch hundeelend vor Seekrankheit inmitten menschlicher Exkremente und Erbrochenem. Man werde überleben, prophezeite der Gefangene den Hungernden an Deck, allerdings werde das Schiff stranden. Es wären Bilder gewesen wie von den überfüllten Kuttern voller Flüchtlingen auf dem Mittelmeer heute, ohne dass die Besatzung wußte wo sie waren, da die Wolken die Sonne nicht freigaben, ein Kompass war ja nicht an Bord (erst mehr tausend Jahre später sollte er Standardausrüstung in Europa werden). In der Adria, so heißt es, spürten in der Nacht die Seeleute nahes Land und loteten, in der Tat, sie waren unter Land. Die Besatzung wollte im Morgengrauen im Beiboot fliehen, Paulus konnte das angeblich wie ein Held verhindern und als der Morgen anbricht, erscheint eine weite Bucht vor den Augen, in der das Schiff wie in einem Märchen am Strand auflaufen kann.

Melite, das in der Regel als Malta gedeutet wird, hiess die Insel, auf das Schiff strandete, ein verregneter, klammer Ort voller hilfsbereiter Barbaren (was damals eine nicht lateinisch oder griechisch sprechende und rechtlich nicht römische Urbevölkerung meinte, keine moralisch deviante Gruppe) und auch dazu noch voller giftiger Schlangen.

Das liest sich gut aber nur bei näherem Hinsehen wird die ganze Seefahrt allmählich immer weniger glaubwürdig. Wenn Phoinix im Westen Kretas lag, warum wollten die Passagiere längs der Südküste Kretas mitsegeln, wenn sie zu Fuß in wenigen Tagen sicherer unterwegs gewesen wären? Und, wo sollte da das große Schiff drei Monate geschützt an der relativ offenen Südküste vor Anker liegen? In der Bucht von Foinikiá? Und, was wollten die Passagiere da? Auch Malta bildet eine, was die Details angeht, große Herausforderung, es bietet im Osten zwar einige mit Mühe für eine Strandung passende Buchten, aber giftige Schlangen, die frierende Schiffbrüchige am Lagerfeuer beissen könnten, gibt es dort nicht. Und gar die Malaria, die auch noch für Melite erwähnt wird? War der Reisebericht in der Apostelgeschichte etwa schludrig geschrieben und ist er eine Ansammlung zusammengeramschter frommer Legenden, wie einige Exegeten meinen? Doch dem steht die an Details genaue Schilderung der letzten Nacht vor der Strandung entgegen, die Seeleute warfen Anker vom Achterdeck aus, ein Detail, was gerne überlesen wird, aber den Bericht umso glaubwürdiger macht, weil es zusätzlich zur Wassertiefe ein Detail enthält, das nur Fachleute wissen können. Moderne Segelschiffe drehen bei backgesetzen Vorsegeln beim Ankeraufgehen auf der Stelle, nur die Blinde (artemon), die in der Antike als Vorsegel gefahren wurde, konnte nicht backgesetzt werden: also mußten Heckanker verwendet werden, wollte man beim Ankerlichten nicht allzu lange steuerlos dahintreiben. Warum sind also exakte Details beschrieben, falls dies alles nur fromme Ausschmückung unter Verwendung bekannter Topoi war?

Heinz Warnecke hatte 1987 versucht detailliert nachzuweisen, dass alles stichhaltig sei, wenn man erstens annimmt, dass man schon auf Kreta garnicht nach Westkreta wollte, sondern nach Phoinix an der Bucht von Pylos auf dem Peleponnes, das einen sicheren Naturhafen hatte und als Hafen für Kreta, also für die Reise nach Kreta galt. Auch die Strandung fand in den Augen von Heinz Warnecke nicht auf Malta, sondern auf Kephallonia statt, weil die Winde üblicherweise im Verlauf eines herbstlichen Zyklons auf Südwest drehen würden. Auch gäbe es auf Kephallonia eine Bucht, die genau zu dieser Erzählung passen würde, ebenso Giftschlagen und es gab zu römischer Zeit dort Malaria. Die Einwohner waren illyrischsprachig, also Barbaren. Malta war hingegen trotz der eigenen Sprache ein wohlzivilisiertes Archipel, dessen Bewohner römische Bürgerrechte hatten, ebensowenig lag es im Seeraum der antiken Adria, auch das ist ein Detail, das man lange geflissentlich übersehen hatte. Warum wurde dann Malta als Ort des Schiffbruches bestimmt? Was wäre, wenn aus politischen und religiösen Motiven Melite zu Malta geworden wäre, weil Malta mehr als achthundert Jahre die äußerste Bastion gegen den Islam gebildet hatte?

Heinz Warnecke, der nie Abitur gemacht hatte, wurde aufgrund seiner Untersuchung promoviert, gefeiert und dann vergessen. Das Eigenartige daran ist, dass die Möglichkeit, die Schifffahrt des Paulus könnte tatsächlich historisch genau erzählt sein, wie ein Strohfeuer aufgelodert war, um dann dem apathischen Nichts anheim zu fallen. Selbst Google bietet nur wenige Verweise, als wolle die Angelegenheit wie eine peinliche Entgleisung vergessen werden. Wird aus Trägheit des akademischen Apparates weiterhin das bequeme Konstrukt einer historischen Unschärfe, die durch die frömmelnde und legendenfreundliche Konstruktion der Apostelgeschichte bedingt sei, in den Details angenommen? Dass also geflunkert und mit geklauten Textbausteinen gearbeitet wurde? Die Lutherbibel und die Einheitsübersetzung wurden niemals derart überarbeitet, dass sie wenigstens in der Apostelgeschichte anstelle von Malta das Melite des griechischen Urtextes genommen hätten, was der Fragwürdigkeit einer Deutung angepaßt gewesen wäre.

Aus.

Wie in einem Brennglas erschien kurzfristig die Möglichkeit, durch leichte, texttreue Korrekturen die Freiheit einer möglichen größeren historischen Plausibilität zu ermöglichen, aber was es verhindert hatte, war wahrscheinlich nicht die Güte einer Gegenargumentation sondern die Gravität des Vorhandenen. Vielleicht ist es auch ein Lehrstück, das auf mehr deutet, als nur auf eine Schiffsreise. Es ist auch die Erzählung eines Schiffbruches, allerdings nicht von Paulus.