Wege für Füße

Fotografie / Geschichte

Neben den Insekten, Amphibien und Reptilien sterben in dem Europa der Hochleistungslandwirtschaft auch die krummen Wege, die Jahrhunderte oder Jahrtausende Menschen zu den Feldern geführt haben und die jetzt, im Zeitalter der maschinell bewirtschafteten Latifundien, obsolet oder zu geteerten Pisten werden. Mit ihnen stirbt auch die Idee des Mäanderns, des Umherschweifens in der bäuerlichen Kulturlandschaft, um einer neuen, seelisch reduzierten Person Platz zu machen. Verschwunden sind nicht nur Schmetterlinge und Lurche, sondern auch die krummen Rücken, die schwieligen Hände und die Kopftücher der Landfrauen, das Milieu von Entsagung, Arbeit und konservativen Wahlverhalten, das Europa der Glühwürmchen, wie es Pasolini genannt hatte.

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NachbarschaftsTV

Fiction

Lesung vom 24.2.2018 in der Galerie Zwitschermaschine

– Goyas Bild, sagte Theodor, müsse man nicht als Kunst betrachten, sondern als eine Vision des missglückten Lebens. Man müsse sich vorstellen, in die eigenen, zappelnden, vor Schmerz schreienden Kinder zu beissen und ihnen sukzessive alles Fleisch aus dem Hals herauszureissen bis sie zu atmen aufhören und dann mit blutigem Mund ihren Schädel aufzubrechen und den Kopf zu verschlingen. Ja, es gelte wirklich in das weiche, wehrlose und saftige Fleisch eines Säuglings die Zähne zu versenken, ja, täte man es, man wäre das Monster, das Goya gemalt habe, ein alter, hässlicher, knochiger Greis mit vor Schreck aufgerissenen Augen, der seinen Sohn verspeist. Mehr noch, ein abstoßender Dämon ist auf dem Bild, ausgezehrt und böse, dessen knochige Pranken den Rest seines winzigen, toten Kindes halten, indessen ihm das Blut aus dem Munde tropft. Sieh es, sagte Theodor, sieh es immer und immer wieder an und dann stelle Dir vor, Du bist es, der auf immer dazu verdammt ist, seine Kinder, seine Hoffnung zu essen, weil Saturn die Herrschaft übernommen hat und alles unter das erbitterte Regiment bleierner Zeit stellt. Meditiere dieses Bild nicht als Kunstwerk, sondern als Symbol Deiner Situation, alles was du dir erhoffst wird von dem Monster, das nachts auf deinem Bettende sitzt, verschlungen. Sag Dir einfach, es gibt keine Hoffnung, es wird keine Änderung mehr geben, nicht mehr und niemals, geschweige denn zum Guten, reiß alle Gedanken daran aus deinem Herzen und zerstöre sie, wie Saturn, der seinen Sohn verschlingt. Endstation, Du bist gefangen, verstehst Du, Du musst Deine Hoffnung verzehren wie Saturn seinen Sohn. Saturn, das ist keine Handelskette, sondern ein Zustand, der unter der der Ägide eines furchtbaren Gottes steht…

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Kalte Glätte

Architektur / Fotografie / Geschichte / Kunst

Nirgendwo tritt die merkwürdige Kälte des Modernen so zutage, wie in dem deutschen Weltausstellungspavillon 1929 in Barcelona. Es ist, als habe man einen unberührbaren Kristall erschaffen wollen, dessen reine Oberfläche die Gegenwart des Todes und der reinen Anschauung vereint. Dass diese architektonische Reduktion den Blick eines Mannes vollzieht, zeigt die im Hof eingeschlossene Statue einer nackten Frau. Den Fetisch des unberührbar Männlichen und Vollendeten hat sich ein späteres deutsches Regime zueigen gemacht ohne diesen Stil zu verwenden, der im Angelsächsischen  International Style genannt wird.

Herr Demand, der Sympathisant

Fiction / Geschichte

Wird man zur Einschüchterung offen überwacht,

wie es Herr Demand sagt, der in seiner Jugend als Sympathisant galt? Ich bin höflich zu ihm und lasse ihn reden. Jede seiner Liebschaften sei wochenlang vom westdeutschen Geheimdienst beschattet worden, das habe ihn fast zu militanter Aktion bringen können, aber für den Untergrund habe er sich nie wirklich entschließen können, man war Boheme und wie viele der radikalen Linken der Siebziger aus der Mitte der Mitte der Gesellschaft gekommen. Man wäre doch eine gewisse Lebensperspektive gewöhnt gewesen, Bader war ein gut aussehender Macho mit Lederjacke und Mercedes, Callboy sagen einige, Frau Meinhof eine sehr kluge und attraktive Journalistin und Holger Meins begabter und, last not least, schöner Mann, ein Filmemacher, dessen frühere Freunde steile Karriere gemacht haben.

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Die Festung starren Glaubens

Architektur / Fotografie / Geschichte / Theologie

In wenigen Bauten verwirklicht sich die Mischung aus Glaube, Ideologie und Macht sosehr in einem Kristall wie dem El Escorial nahe Madrid, das von Philipp II. von Spanien am Rande der Berge in der Nähe von Madrid als Kloster und Palast konzipiert worden ist. In ihm scheint der militante Katholizismus der Gegenreformation zu einem steinernen, abweisenden Manifest absoluten Willens zur eigenen Unterordnung verdichtet zu sein, dessen grauer Granit fast schmucklos ist, aber eine ungeheure serielle und disziplinierende Wucht ausstrahlt. Das einzige, was nicht Glaube und Macht der Herrscherhauses ausdrückt, sind Stiche von Dürer mit Tieren und Pflanzen in dem intimen Arbeitszimmer von Philipp II.

Geistigkeit und Vernunft

Denken / Geschichte / Theologie

Viele deutschsprachige Autoren und Philosophen haben sich an einer Gesamtschau der Geschichte versucht,

Karl Marx etwa, dessen Thesen erneut bei etlichen Linken eine zweite Renaissance erleben, je mehr der Spätkapitalismus sich in seine dysfunktionale Agonie steigert und absurder das Verhältnis zwischen den Gütern der Wenigen und der Mittellosigkeit der Vielen wird. Auch die Rechten könnten in ihrer Lektüre bei einer Gesamtschau der Geschichte fündig werden, nur hier wäre es Oswald Spengler, der Kulturen in ihrer Entwicklung verglichen hat und nun dem Westen analog Rom einen allmählichen Übergang von der Demokratie in das Imperium verheisst, mit den Begleiterscheinungen des Populismus, des Verfalls der Frömmigkeit zugunsten von Esoterik und Fundamentalismus sowie der immer weiter auseinander klaffenden sozialen Schere, auch der Limes, was Spengler ja so noch nicht gesehen hatte, wird in anderer Form in Ungarn und Serbien zum „Schutze“ der EU mit Stacheldraht neu errichtet.

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Manchmal ist jener Schwert und dieser Scheide, manchmal umgekehrt

Literatur / Theologie

Dieser Satz, der auf schwulen Sex verweist, ist Zitat aus der Abhandlung über die Liebe im theologischen Hauptwerk von Ahmad al Ghazzali, einem der wichtigsten islamischen Theologen und Mystiker.

Ahmad al Ghazzali lebte im Mittelalter kurz nach der Jahrtausendwende in Bagdad, der damaligen intellektuellen und wirtschaftlichen Metropole. Er gilt als derjenige, der die Liebeslyrik und Mystik der Sufis mit der Orthodoxie des Islams vereinen konnte, in seinen Gedanken über die Liebe legt er nochmals die Grundzüge einer Schule muslimischer und auch antiker Theologie dar.

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Es war Samstag

Berlin / Denken / Theologie

“Was hältst Du von dem IS?”

Es war Anfang Dezember und Samstag Nacht, die U-Bahn fuhr nach Neukölln, um mich herum saß eine Gruppe junge Männer. Sie redeten miteinander und scherzten. Sie hatten dunklere Haut und Drei-Tage Bärte und die Figur von Leuten, die regelmäßig Sport machen oder mehrmals wöchentlich ins Fitnesstudio gehen. Vermutlich waren sie türkisch oder arabisch stämmig, sie redeten auf Deutsch, ich hörte nicht hin, da ich noch meinen Gedanken nachhängen wollte. Sie waren offenbar Freunde und neckten sich. Der Zug war nur halbvoll, es war noch vor Mitternacht, die jugendlichen Partygäste, die wie von Modemagazinen gecastet wirken, noch nicht da.
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