Der Albtraum

Denken / Fiction

Es war wieder der Alte, der mich diesmal wieder gefunden hatte.

Dieser böse alte Mann, der mit sich eine Hündin führte. Ich sah ihn kommen, gleich würde er sich neben mich setzen und mit der Verbissenheit eines verbitterten Menschen mir seine Verschwörungstheorien verkaufen. Ich kam aber nicht weg, es war mir als müsste ich auf dieser Bank kleben und konnte nicht aufstehen. Es war zu spät, die zudringliche Besserwissererei des Alten kam immer näher, ich war wie gelähmt. Ich blieb sitzen, ich war allein, schon die Nähe des Alten würde mich von meiner Umgebung entfernen. Knotige Hände fuchtelten in der Luft, es war kalt und wahrscheinlich näherte sich eine feuchte Hundeschnauze mir hinter meinem Rücken und ich würde wieder dieser feuchten Attacke ausgesetzt sein.

Es war nur ein Traum. Ich setzte mich auf. Ich war in meinem Schlafzimmer. Ich hatte doch irgendwann im Frühjahr diesen Alten auf einem Spaziergang getroffen, als ich auf eine Bank gesessen war. Der Alte hatte ewig über den leidigen Krieg in der Ukraine gefaselt und sich in diverse Verschörungstheorien hineingesteigert. Ich hatte doch versucht, diesem Redeschwall auszuweichen, es war, als wollte er mich mit allem Möglichem infizieren. Hatte er mich so abgestoßen, dass er mir nochmal im Traum erschienen war?
Ich sah auf die Uhr, halb vier, es war noch dunkel.
In dem Traum hatten die Worte des Alten wie eisige Peitschenhiebe geklungen: Sagen sie doch junger Mann, wer die Pipelines in die Luft gesprengt hatte? Sagen sie es doch?
Dann ging der Alte in dem Traum fort.
Sagen sie es doch! Sagen sie es!
Mein Bett war zerwühlt. Ich stand auf und ging in die Küche um mir ein Glas Wasser zu holen. Warum hatte mich der Traum so aufgeregt?
Ich wußte es, der eigentliche Alb hatte ja erst später richtig eingesetzt: Ich war auf einmal im Traum in einer Unterführung, die irgendwohin führen sollte, dunkle und böse Gänge zogen sich dahin, ich irrte und endete in einer Sakristei, in der ein junger Priester mit einem grauen Anzug und Römerkragen stand. Ich sah mich um, ich war auf einmal ein Junge, die Sakristei war groß, Ehrfurcht gebietend und überall standen Schränke aus Eichenholz. Licht, freundlich und hoch war der Raum, über den Schränken waren Fenster. Ich war in Sicherheit. Es war das Gefühl, gerettet zu sein. Vorsichtig griff der Priester nach meinem Kopf, streichelte mich, ich fühlte seine Wärme. Dann drückte er meinen Kopf nach unten und öffnete den Knopf seines Hosenbundes. Was sich mir entgegenstreckte, war fleischig, rot und roch nach Fisch…
Mir war immer noch übel und trank hastig das Wasser. Ich fröstelte, als wäre ich tatsächlich mißbraucht worden und ekelte mich meiner Haut. Als würde ich mich stundenlang duschen wollen, um die Fremde meiner Haut zu vertreiben. Vielleicht hatten mich die Nachrichten letzter Tage so beunruhigt.
Ich legte mich wieder hin, der Raum war kalt nachdem das Gas so teuer geworden war. Ich zog die Decke über mich und versuchte den Traum zu verscheuchen. Aber an sich, dachte ich mir, war der Traum doch klar: Diese Abseitigen, der eklige alte Mann und dann der scheinheilige Priester, das alles war in Wahrheit nur eine Kadenz des Widerwärtigen.
Ich lag da und versuchte die Gedanken Ruhe finden zu lassen.
Es gelang nicht. Ich fand keine Ruhe. Immer weiter zogen Zweifel ein. Sagen sie es doch! Die schneidenden, scharfen Worte hallten nach. Ich konnte sie nicht vertreiben. Es war als würden langsam winzige Stücke aus meinem fest gefügten Urteil brechen. Eines nach dem anderen. Sagen sie es doch! Aber es hatte ja niemand eine plausible Hypothese wer die Sprengladungen angebracht haben könnte. Sagen sie es doch! Man musste das doch wissen, die Ostsee wurde wohl gut überwacht. Wer war es dann gewesen? Wer hatte denn im Spätsommer dort Streitkräfte? Die USA. Und warum sollte man darüber nicht schreiben oder reden?
Und wenn ich mich diesen Gedanken hingab, zog es mich immer weiter aus dem Bereich des Sicheren fort. Böden gaben nach und immer tiefere Keller erstreckten sich ohne dass ein Ende abzusehen war. Ich zwang mich den Gedanken standzuhalten, es war als müsse ich ohne jedes schützendes Geländer in einen steilen Abgrund blicken.
Ich fröstelte, obwohl die Decke warm war. Vielleicht ergab der Traum wirklich einen anderen Sinn. Wer zwang wen zu welcher Tätigkeit? Warum wurde es in dem Bereich des moralisch Guten besonders schlimm? Wer vergewaltigte mich? Wem hätte ein Junge vor vierzig Jahren von dem ekligen Zwang, den Genitalbereich des Kaplans in den Mund nehmen zu müssen, erzählen können? Junge, hast du noch alle? Der Herr Pfarrer! Bleib mir mit deinen Schweinereien vom Halse!
Was war, wenn heute das alles in politischer Hinsicht genauso war? Wurde auch sonst gelogen und lagen nicht schon längst weit mehr als Hunderttausend tote Soldaten der Ukraine unter der Erde obwohl der Endsieg der Ukraine verheißen wurde? Waren die Soldaten nicht verheizt worden, obwohl niemals ein Sieg abzusehen war? Benutzt jemand die Ukrainer? Was wäre wenn diejenigen, die sich von der heroischen Propaganda des erfolgreichen Krieges mißbraucht fühlen, sich genauso einsam und erniedrigt fühlen wie früher Mißbrauchsopfer? Wenn um uns die moralischen Sicherheiten zusammenstürzen würden und man nicht wissen wollte, wer von dieser Lüge profitieren würde?
Mir war schwindelig. Alles, was das Abendland an politischen Werten gewesen war, schien wie ein Kartenhaus zusammenstürzen zu wollen. Ungeheuer standen vor der Tür.
Ich setze mich wieder auf. Es gab keine Antwort.

Foto: Rüde aus Italien. Dieses Tier wird politisch außerordentlich korrekt gehalten und hat angeblich keineswegs die unangenehme Eigenschaft, jemanden mit seiner feuchten Zunge abzuschlecken. Der Beitrag über den Alten ist hier.

Zu den gesprengten Pipelines von North Stream (Nachtrag 10.2.2023): Der Generalbundesanwalt geht nicht von einer Beteiligung Russlands aus. Seymour Hersh vermutet in seinem jüngsten Artikel die USA und Norwegen hinter der Tat.