Ränder der Neuzeit, Teil 1

Geschichte / Theologie

1976 hungerte sich einem Siedlungshaus in Franken eine junge Frau mit 23 Jahren zu Tode,

nachdem sie 1973 erstmals durch Klopfen im Zimmer und Stimmen aus der Hölle beunruhigt wurde. Es war das Jahr, in dem der Film The Exorcist von William Friedkin in die Kinos kam, der eine fiktive Teufelsaustreibung beschreibt. Anneliese Michel war darauf wegen vermuteter Epilepsie in Behandlung, denn seit ihrem Zeit als Teenager sah sie außerdem dämonische Gesichter, Fratzen, wie sie sie nannte. Sie war streng katholisch aufgewachsen, Tanzen war ihr verboten, Fotos des Elternhauses lassen auf eine enge, karge religiöse Atmosphäre schließen.

Als sie auf einer Wallfahrt zu einem kirchlich nicht anerkannten Wallfahrtsort geweihten Gegenständen auswich, wurde ein langsamer Prozess in Gang gesetzt. Konsultationen mit Geistlichen, namhaft mit Adolf Rodewyk und Ernst Alt, folgten. Ein Probeexorzismus wurde gebetet, bei dem sie den Rosenkranz zerriß. Anneliese Michel wurde zusehens wirr, Ernst Alt, ein Gemeindepfarrer, riet zur Psychiatrie. Die Eltern und Anneliese Michel lehnten ab. Am 16. September 1975 ordnete Bischof Stangl den großen Exorzismus nach dem Rituale Romanum an, also die Teufelsaustreibung, die bei von Dämonen besessenen angewendet wird. Arnold Renz, ein Pater, und Ernst Alt als Beistand wurden mit der Durchführung beauftragt. Wenige erhaltene Videos zeigen Szenen, die an The Exorcist erinnern, Anneliese Michels Stimme verkehrt phasenweise sich in ein Fauchen und Kreischen, das unheimlicher und böser klingt als das jeder Geisterbahn, die je gebaut wurde. Luzifer, Nero, Adolf Hitler, Kain and Judas Iskariot wollten erschienen sein, die Auswahl der Dämonen erscheint wenig phantasievoll, wäre da nicht ein Pfarrer Valentin Fleischmann gewesen, der wirklich 1572 zum Priester geweiht worden war und wenig später wegen Mordversuchs, Alkoholmissbrauchs und Aggressivität laisiert wurde. Woher wusste Anneliese Michel von ihm? Die Stimmen auf den Tonaufnahmen sind hämisch, sie sind stolz die Exorzisten zu foppen und erklären, sie, die Stimmen, hätten es in ihrer Macht gehabt, Anneliese Michels Gesundheit Stück für Stück zu ruinieren. Inzwischen machte Anneliese Michel Hunderte Kniebeugen am Tag, magerte zum Skelett ab und biß in die Wand. Sie wurde jedoch immer wieder ins Kreuzverhör genommen, damit die Dämonen von ihr ließen. Am 1. Juli 1976 verstarb sie, 31 Kilo schwer bei 1 Meter 66 Größe. Warum wurde sie nie eingewiesen und zwangsweise ernährt?

Die Eltern als auch Renz und Alt wurden am 21. April 1978 jeweils zu sechsmonatigen Haftstrafen, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden, verurteilt. Die Gesetzeslage war eindeutig, eine Zwangseinweisung war nach bairischen Gesetzen juristisch legitim und geboten. Nur mag der 1974 in Wittlich verhungerte Holger Meins daran erinnern, dass gegen den Willen angeordnete Zwangsernährung nicht unbedingt zielführend ist.

Mit Anneliese Michel beendete die Deutsche Bischofskonferenz alle Exorzismen, der Fall Anneliese Michel bildet auch eine Scheidelinie in Deutschland zwischen denen, die jetzt in einer „modernen“ Kirche leben wollen und jenen, die eine vorkonziliare Kirche ersehnen und insgeheim zur Piusbruderschaft von Marcel Lefebvre tendieren. Auch die Deutungen des Geschehens klaffen auseinander, es werden Schizophrenie und durch familiäre Konflikte gestörte Persönlichkeit gegen Besessenheit angeführt. Nur wer könnte nicht einwenden, dass Epilepsie oder Schizophrenie ein Einfallstor für allerlei mögliche paranormale Phänomene böten? Die angeblichen Aussagen der Dämonen berühren oft die Scheidelinien zwischen vorkonziliarer Kirche und heutigem Katholizismus, sodass auch hier, bei den satanischen Botschaften, Vorsicht geboten ist. Eine veränderte Liturgie und eine Revision im Verhältnis zwischen Kirche und Judentum wird wohl nicht das Schlimmste an Ausgeburt der Hölle sein, es sei denn man sähe dies wie Levebre als Symbol für eine Verflachung und Verrat des überkommenen Auftrages. 

1981 erschien The Exorcism of Anneliese Michel von Felicitas Goodman, einer amerikanischen Lingustin und Anthropologin, die sich mit veränderten Bewusstseinszuständen befasst hatte. Ihre Arbeit gilt allerdings nicht als streng wissenschaftlich, Frau Goodman vermutet tatsächlich andere Wesen, die sich in Anneliese Michel manifestierten, ihr Buch führte zu dem Film The Exorcism of Emily Rose, in Deutschland wurde die Geschichte von Anneliese Michel mit Requiem originalgetreu und einfühlsam verfilmt. Richard Gallagher, der als Psychiater Exorzisten in der katholischen Kirche in den USA betreut, schrieb 2016 in der Washington Post, er erkenne als Psychiater seelische Krankheiten, aber es gäbe bestimmte extrem eigenartige Fälle, bei denen die Stimmen Dinge wüßten, die die möglicherweise besessene Person niemals wissen könnte, oder gar, die Stimmen sprächen eine Sprache, die die so nicht mehr bekannt sei. Was dann? Fast alle Kulturen glauben an Geister, schreibt Gallagher, und fast alle könnten Belege für ihre Anwesenheit liefern. Könne man dann als Gläubiger den Leidenden die Hilfe, den Exorzismus, verweigern?

Es gibt immer noch Kulturen, in denen Geister alltäglich sind. 1971 reiste Hubert Fichte nach Brasilien, genauer gesagt nach Salvador die Bahia, auch um die Praxis des Candomblé zu studieren. In dieser Religion der afrikanisch stämmigen Brasilianer versuchen Probanden bei Versammlungen mit schnellen Beats in Trance zu geraten und sich von Geistern oder wem auch immer in Besitz nehmen zu lassen, damit die Geister sich den Lebenden mitteilen zu können. „Doch mir scheint, die Unterdrücker Brasiliens haben längst erkannt, daß sie keinen besseren Verbündeten haben als die Priesterschaft der afrobrasilianischen Mischkulte, die nicht nur jeden Funken kritischen Bewußtseins löscht, sondern menschliches Bewußtsein überhaupt zu brechen imstande ist.“ schrieb Hubert Fichte in Ein Geschwür bedeckt das Land. Furcht und Elend der brasilianischen Republik. 

Mehr als vierzig Jahre nach seinem Film The Exorzist  hat William Friedkin Pater Gabriele Amorth kurz vor dessen Tode besucht und selbst einen Exorzismus gesehen und gefilmt. Die Welt und der Vatikan seien längst in der Hand des Satans, sagte Pater Amorth. Der Bericht von William Friedkin, den er in der Vanity Fair veröffentlichte, schwankte zwischen barem Erstaunen und Zweifel, was auch die Reaktionen der von ihm konsultierten Spezialisten, die die Filmaufnahmen begutachten, bestätigten. Bis auf wenige Details glich die Schilderung des Exorzismusses denen, die von Anneliese Michel bekannt sind, auch mussten die Exorzissmusse ebenfalls hier immer wieder wiederholt werden und Pater Amorth starb, ehe die Frau als befreit angesehen werden konnte.

Im Himmel, sagte Pater Amorth, werde er den Teufel noch härter bekämpfen. Für ihn war die Welt nicht jene Komfortzone, in der man ein möglichst schönes Leben führen sollte, sondern die Kampfarena, in der die Divisionen Satans und die Gottes den Kampf um die Seelen ausfechten, wobei die Divisionen Satans in ihrer Verzweiflung wissen, dass sie verloren haben, weil sie verdammt sind und neue Verdammte für ihren erbarmungslos hungrigen Schmerz brauchen. In diesem Blickwinkel wäre die Moderne eine Falle, weil die Angst vor der Verdammnis verschwunden sei. Auch seien Divisionen des Teufels längst überall eingedrungen und die Arglosen oder die Geblendeten seien die Verlierer, eben jene, die von der scheinbaren Diesseitigkeit der Moderne verführt wurden.