Endherzflimmern

Fiction

EINE KURZGESCHICHTE

Warum erzählst du Maria immer wieder von dem Moment, als du Holger das erste Mal verführt hast, er auf dem Dach im Morgengrauen den letzten Wein getrunken hatte. Du hattest Angst er könnte fallen, hinabstürzen in den Hof, als er torkelte, der schlanke, dürre Mann, der seine Hände ausbreitete, als wolle er die gesamte Stadt von sich überzeugen. Ja, irgendwann würden die Stadt in einer Raumfalte verschwinden sagte er, irgendwann würde das alles aufgesogen in einem Meer aus Gier und Betulichkeit. Er lachte dabei, zitierte Marx und Ulrike Meinhof, rauchte eine Zigarette nach der anderen, redete und deutete auf das Meer aus Dächern und Kaminen mit den Hochhäusern im Hintergrund. Frei, sagte er, frei müsse man sein, frei sei nur der, dem es egal sei, ob er verlöre, oder gewönne, wichtig sei nur das Leben. Warum wiederholst du es, Maria, warum wiederholst du es immer wieder, es war doch nach dem ersten Abend mit uns allen auf dem Dach, ich war doch dabei, ich sah ihn doch auch wie er auf dich zulief, den sehnigen, schlanken Mann mit dem blonden, wie bei Bowie gegelten Haaren und der leeren Weinflasche in der Hand. Er konnte schelmisch lachen, ja das weiss ich, Madame Kalaschnikoff nannte er dich, oder, was dich richtig in Rage brachte, er beförderte dich zur Obergefreitin der revolutionären 8.Spacebrigade, die er gründen wollte, indem er alle Gartenzwerge aus Bücklingshausen mit Silberlack besprayt und rosa Hakenkreuzen drapiert an der Westtangente aufstellen wollte. Ich weiß es doch, wir waren hier auf diesem Dach gesessen, was man damals noch konnte, bevor es in Luxuswohnungen verwandelt wurde. Du brichst ab, ich weiss, es kommt der zweite Bourbon, on the Rocks, wie immer. Warum sprichst du auf einmal über ihn, als liebest du ihn noch? Du hattest ihn doch nie erwähnt? Er war doch an der Kunstakademie und wohnte nur diesen stickig heissen Sommer bei uns. Der Wein ist getrunken, jetzt greifst du in die Tasche, Maria, ja du nimmst ein Buch, als wollest du daraus lesen, ich weiss, ein Buch, ein Kunstband offenbar, das ist es, was du mir zeigen willst, eine Laudatio zu einer Stiftung, die auf der Rückseite mit schlechter Grafik verziert ist und auf deren zweiten Seite eine Widmung der Kultusministerin ist.

Eigentlich sind zwei Flaschen Wein mehr als genug, mehr als ausreichend, mehr als wir brauchen, um den Abend abzuschließen, aber du willst noch einen Whisky, on the rocks, wie du sagst, hol doch zwei, einen für mich und einen für dich. Warum zeigst du mir diese Laudatio, denke ich, warum? Warum habe ich zugelassen, dass du so viel von ihm redest, als habest du vergessen, wie bitter für dich dieser Sommer geendet war. Ja, ich erinnere mich, ich höre noch dein Stöhnen nachmittags im Zimmer nebenan, die ganzen 20 Minuten, die er gebraucht hatte, um sich in dir zu entladen. Fast geschrien hattest du, ja, das weiß ich noch, ich dachte schon, ob ich wie Kafka klopfen sollte, ob dir denn wohl sei? Ja, du hast immer die großen, dünnen und sehnigen bevorzugt, in der Hoffnung ausreichend Friktion zu erleben. Maria, wer war eigentlich vor Dir sicher? Ich war es, du hast die kleinen Dicken nie sexuell gemocht, Mikromoppelchen nanntest du mich und nahmst mich als ein fleischiges emotionales Kissen, wenn die Sexpartner nicht so waren, wie du sie gerne gehabt hättest.

Aber was soll ich sagen, das war lange her, ich muss gestehen, dass ich Holger beneidet hatte, während ich diskret die Handarbeit auf der Toilette verrichtete.

Aber warum sprichst Du jetzt von ihm, Maria?

Du weisst doch, dass er überraschend ausgezogen war. Ist es so, dass er schlichtweg so attraktiv war, dass du ihn nie vergessen konntest? Er war doch einfach weg. Er ließ nichtmal eine Telefonnummer zurück, fort war er, wir wußten nichtmal wohin seine an ihn geschickten Briefe weitergeleitet werden sollten. Wir haben doch seit dreißig Jahren nie mehr was gehört von ihm, er sei Professor irgendwo, hat es mal geheissen, ohne dass wir nachfragten, wo. Jetzt sitzt du da und schaust ins Leere, die Laudatio in der Hand, dieses altweisse Heft, was nun irgendein Förderverband gedruckt hat, weil Holger jedes Jahr dem Kreis und dem Land eines seiner Werke stiftet, was fortan in Rathäusern, Ministerien oder der Landesvertretung in Berlin sein Dasein fristet.

„Wir sagen: Leben in der Kunst ist Kunst, Kunst aber ist alles andere als Geschichte und heute wird nicht gerichtet, sondern gesetzt.“

Scheisse, sagst du und kippst den Whisky hinunter, Scheiße.

Ich höre das Wort Laberaffe, während ich in die Küche gehe, um die Eiswürfel aus dem Tiefkühlfach in dein Glas zu tun, deine Worte gelten dem Innenminister, dessen Laudatio sich auf Seite 5 befindet, wobei ich befürchte, dass du, Maria, jetzt diesen Satz nicht mehr ohne Artikulationsprobleme über die Lippen bringen würdest. Dabei hast du früher immer gut geschrieben, manchmal in politischen Periodika, später in Frauenzeitschriften, als dein Hass auf die Männer immer größer wurde.

„Alles Tun, alle Kunst wird Geschichte, und zwar genau in dem Moment, in dem der Augenblick vorbei ist. Hier könnte man, was ich mir heute verwehre, einen anderen Denker anführen, nämlich Aurelius Augustinus, der in seinen Confessiones genau darüber nachgedacht hat, wie aus jedem Augenblick augenblicklich Vergangenheit wird, also: Geschichte“.

Jetzt sitzt du da, Maria, vor dir der aufgeschlagene Band der Laudatio, auf dessen einer Seite sich Fotos älterer Herrschaften mit Anzügen in einem belanglosen Saal befinden, es ist ein teurer Hochglanzdruck, dessen Seiten weiß schimmern. Fast alles Männer, wenn man von der Kultusministerin und der Bürgermisterin absieht. Maria, sage ich mir, während ich diskret den dritten Whisky hinunterkippe, machtbewusste Männer neigen dazu, sich an die ideologischen Strukturen ihrer Gruppe anzulehnen. Holger war schon damals irgendwie berechenbar in seinen Ansichten, ein Wort darüber, dass Reagan durchaus vorsichtig agiere, führte zu einem ideologisch gefärbten Wortschwall, durch den man als moralischer Untermensch qualifiziert wurde. Aber das war doch bei uns allen so? Wollten wir nicht unter uns bleiben?

Ich nehme die Laudatio in die Hände, das Layout erscheint einfallslos, die nichtssagenden Fotos sind brav gesetzt wie bepflanzte Waschbetonkübel in Fussgängerzonen. Betuliche Vortragende und gedruckte Vorträge wechseln sich ab, man ahnt, das geflissene Bürgertum feiert sich selbst. Prof. Holger Weinscheid, ein Mann mit beginnender Halbglatze und weißem Kinnbart schüttelt die Hände des Rektors Prof. Dr. Winfried Nürendorf, ich erschrecke, weil ich den Verfall des Fleisches und das Fortschreiten der Zeit sehe. Ist dieser kräftige Mann mit dem verlebten, faltenreichen Gesicht wirklich Holger? Er sieht aus wie alle anderen auf den Photos. Ich blättere weiter, die Anzüge in der Laudatio sind mehr als gediegen, aber doch von der Stange, die Gesichter ernst, als gelte es Gefallene zu begraben und die Blumenarrangements sind gnadenlos langweilig.

Holger, wie konntest du nur?

Holger sieht trotzdem würdevoll und gediegen aus, wirklich. Seine Gouachen und seine Ölgemälde sind bunt, plakativ, mit Totenköpfen, Kindern und zerschredderten Autos, dazu Soldaten und Palmen.

Was für eine Kunst, die unbedingt in Ministerien und Bankdirektorenzimmer von Kreissparkassen will, meinst du, Maria.

Unsere Revolution ist Punk, hatte Holger gesagt, jetzt sitzt du da Maria, mit den kurzen, weinrot gefärbten Haaren und den aufdringlichen Ringen an den Fingern, schwer geworden und träge von heutigen Alkohol. Du hast immer gern getrunken, mehr als wir alle, und du hast immer länger als wir getanzt. Du hast das getan, was du tun wolltest, Häuser besetzt, Gärten auf den kanarischen Inseln angelegt und in Irland Lachse geangelt. Du bist immer Vollgas gefahren, egal welches Auto. Selbst mit einem Käfer bist du angeblich in Frankreich der Polizei entkommen.

Und jetzt?

Warum habe ich mich immer von Dir beeindrucken lassen, Maria? Du bist halb eingeschlafen, das Glas liegt am Boden und die Eiswürfel schmelzen auf dem Parkett. Ich nehme sie auf und öffne das Fenster, um sie in den Hof zu werfen. Es ist halbdunkel draussen, alle Fenster sind ohne Licht, Mülltonnen und Fahrräder sind aufgereiht im Hof wie Grenadiere. Mein Gott, wie müde ich aussehe. Ein kleiner, fetter Mann mit den dicken Brillengläsern eines Redakteurs, dazu das müde Gesicht, weil Alkohol und Kokain längst dazu dienen, den Berufsalltag im Verlag aushalten zu können. Auch ich, was du nicht bemerkst Maria, trage inzwischen eine teure Brille von Thomson Eyewear, für dich war sie nur schön bunt, mehr nicht. Ich wohne immer noch in derselben Wohnung wie damals, nur jetzt allein. Im Haus bin ich jetzt derjenige, der am längsten hier wohnt. Habe ich Dir nie gesagt, Maria, dass das Bild in meinem Schlafzimmer von Holger ist? Dass die dünne Frau mit dem Dark Wave Outfit, die wie von Schiele gemalt erscheint, heimlich von ihm in der Ubahn fotografiert worden war? Ich weiss jetzt allerdings nicht, ob ich das Bild weggeben soll. Kann ich unter jemandes Werk schlafen, der stolz ist, für die Räume der Ausschüsse des Landtages gestiftet zu haben? Unter dessen Werk, Leononardo im Gespräch mit Beuys, jetzt die Abgeordneten des Ausschusses im Ausschusssaal 4A den Bau der B 67 besprechen? All das wird mir immer peinlicher.

Aber jetzt? Die Laudatio liegt schwer in meiner Hand. Eigentlich ist es egal, ob die Kultusministerin konservativ ist, oder nicht. Und die Nähe zur Macht? Drehte nicht auch Mekas bei den Kennedys auf Montauk? Oder waren nicht Helmut Schmidt und Siegfried Lenz Freunde? Das ist egal. Wirklich, Kunst sucht immer die Macht, sonst geht sie unter. Aber warum wirkt es jetzt wie ein Faustschlag? Weil die Laudatio so billig wirkt, so provinziell, als wäre die Kreissparkasse Schüchtern-Lünehausen das letzte Lebensziel?

„Wird die Gruppe der Personen auf dem Schiff wirklich zurück nach Thessalien gehen? Bewusst hat man sie ausgeschickt. lst es nicht eher ein Symbol dafür, dass sie dem Land, der Gesellschaft, der Herrschaft Ausgespiene sind und nun ein neues Lebensziel suchen? Und dieses Lebensziel wird symbolisiert im Goldenen Vließ.“

Ich verstehe es nicht, ich verstehe es wirklich nicht. Holger lächelt immer noch so cool wie früher, jetzt, da auf dem Photo er und der Rektor der Hochschule sich die Hände schütteln. Vermutlich hat Holger jetzt sich das Zweitrefugium auf Lanzerote leisten können. Und ich drehe mich um, um die schwere und dicke Frau, die jetzt auf der Couch eingeschlafen ist, zuzudecken und ihr ein Glas Wasser hinzustellen. Ich sehe, dass Maria alt geworden ist. Und ich sehe, dass sie geweint hat, bevor sie eingeschlafen ist

Zitate: „El Mundo – Teatro“, die Stiftung Karl Oppermann an der Hochschule Harz, 2015. Alle handelnden Personen sind frei erfunden.