„Es ist unerträglich und nicht hinnehmbar, dass Juden und Jüdinnen, Synagogen und jüdische Einrichtungen bedroht, verunglimpft und angegriffen werden. Antisemitismus ist ein Verbrechen. Wir werden uns überall entgegen stellen, wo Antisemitismus auf den Straßen in unserem Land laut wird.
Unerträglich ist die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden aus unserer Gesellschaft (…) Wir zeigen Gesicht und versichern den jüdischen Gemeinden: Wir stehen an ihrer Seite. Wer euch angreift, greift auch uns an. Wir stehen auf gegen Antisemitismus.“
So lautet die Erklärung des Erzbischofs von Berlin, Dr. Heiner Koch, und des Bischofs der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Dr. Christian Stäblein. Vor allem der Satz, „wer euch angreift, greift auch uns an“, läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Satz könnte passen, denn nach den Gräueln der Nazis und jahrhundertelanger Progrompraxis hatte sich die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil („Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis der Apostel immer noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich“, Nostra Aetate 4,11) endlich durchgerungen, die bisherige Lehre, mit der Ablehnung Jesu seien die Juden aus dem Hause Gottes geworfen, zu entsorgen. Juden, egal ob getauft oder nicht, seien als Teil des Volkes Gottes zu sehen, die heilsgeschichtlich verbrämte Disqualifizierung der Juden, die mehr als ein Jahrtausend Usus war und in der Ansicht von Augustinus gipfelte, die Juden seien in ihrer Zerstreuung ein Zeichen für ihre Sünde wider Jesus, sollte in dem Konzil ein Ende finden.
Der historische, christliche Antisemitismus fusst einerseits auf der Trennung des rabbinischen Judentums von allen jüdischen chiliastischen Strömungen (zu denen die Rabbiner die Christen zählten) nach den Katastrophen der jüdischen Kriege und andererseits auch auf den selbst für Theologen kaum verständlichen Texten der paulinischen Briefe. Referiert der Römerbrief über das von Gott gewollte Ende des Alten Bundes, wenn man Römer 10,4 in der Fassung der Lutherbibel liest, „Denn Christus ist des Gesetzes Ende, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt“? Doch selten hat es derartig sperrige Texte gegeben, deren Originaltexte sich dem raschen logischen Zugriff zu verweigern wollen.
Paulus war in seiner Jugend als wohlsituierter römischer Bürger und Jude nach Israel gegangen um dort als Radikaler zu leben, bis die Erscheinung Jesu in ihm seinem Fundamentalismus ein Ende machte. Dementsprechend wachsen die paulinischen Briefe aus der mystischen Erfahrung des Logos ohne die seine Texte nur wenig verständlich sind. So werden übliche Kategorien des Denkens und des Todes mit katargein, einem Wort, für das es keine genaue Übersetzung gibt, als vorläufig oder entwertet bezeichnet.
Bis zu den jüdischen Kriegen waren Juden und Gottesfürchtige zusammen in der Gemeinde (Gottesfürchtige war terminus technicus für Griechen und Römer, die ohne zu konvertieren an den Gott Israels glaubten) nur durch eine Mauer im Vorhof der Synagoge getrennt. In den Briefen wird nun debattiert, ob Juden als Christen sich noch an mosaischen Gesetze halten sollten, ob die Gesetze sinnlos seien, und überhaupt, wie das Ganze und insbesondere die trennende Mauer im Lichte des Glaubens zu sehen sei. Auch hier verwendet Paulus katargein, was so nicht zu übersetzen ist, aber zwischen „aufheben“, „zuschanden machen“, „entwerten“, „als anders erscheinen“, „sichtbar auf Erfüllung wartend“ chargieren könnte. Es bezeichnet den Abschied von jenen einfältigen intellektuellen Kategorien, die Paulus offenbar als junger Mann als sein Denken angenommen hatte, bevor er zu einer Schau der Dinge gelangte, die das Bisherige, Eindeutige als Schatten an der Wand sah.
Interessant ist jetzt, wie die Institution Kirche mit ihrer neuen Sichtweise umgeht, vor allem was die liturgischen Texte und die Übersetzung der Paulusbriefe angeht. Die perfidis judaeis der katholischen Karfreitagsliturgie wurden schon vor dem Zweiten Vatikanum aus der Liturgie entfernt. Das Tantum ergo von Thomas von Aquin wird aber immer noch in der originalen Fassung gesungen (et antiquum documentum novo cedat ritui), obwohl es diametral der jetzigen kirchlichen Lehre widerspricht. Auch dass Christus telos des Gesetzes sei (Römer 10.4) wurde erst 2016 mit „Ziel“ in der revidierten katholischen Einheitsübersetzung übersetzt. Bis dahin folgte man treulich der spätantiken Vulgata, die es mit finis, „Ende“, übersetzt hatte. In der aktuellen Einheitsübersetzung beläßt Epheser 2,15 die alte Übersetzung wenn das Gesetz „aufgehoben“ wird, obwohl es vielleicht für Paulus nur in anderem Licht erschien angesichts seiner früheren Rigorosität, die der heutiger Muslime im Kalifat der IS glich.
Den Aposteln trug Jesus laut Matthäus auf, alle Völker zu taufen, was die wörtliche Übersetzung aus dem Aramäischen und dessen Äquivalent zu den hebräischen goiim, der Vielheit der nichtjüdischen Völker, sein müsste. Die Einheitsübersetzung bildete bis 2016 leider ein Beispiel für gedankenlose Interpretationen. Die Formulierung war „Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“, erst jetzt heisst es korrekt: „Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern“.
Dauer und Nuancen bilden den Kern der Veränderung. Es ist nicht der rapide Kurswechsel einer Yacht sondern das langsame Drehen eines Supertankers, das hier sichtbar wird. Hier blitzt die Multitude auf, um den Begriff Antonio Negris zu verwenden, das auf keine Grenze oder Kultur reduzierbare Volk der messianischen Hoffnung. Diese polyphone und auch nicht im Ablauf der Dinge homogene Menge, die sämtliche Widersprüche und alle möglichen Herkünfte umfasst, ist das sichtbare Gegenstück zu jeder simplifizierenden Ordnung. Sie ist ein Vehikel, das Veränderung und Wachstum in sich trägt. In dem Prozess wird die Signatur eines Umdenkens sichtbar, das lange noch nicht abgeschlossen ist und geschweige denn formal überall durchgedrungen ist, aber jenes Terrain bezeichnet, das Hochreligionen von Sekten unterscheidet. Es ist jene Fläche, die offen ist für den Geist des Anderen.
Mehr dazu in dem Essay. Die Lutherbibel von 2017, die Zürcher Bibel und Gute Nachricht Bibel belassen in Römer 10.4 die Übersetzung von telos bei Ende oder umschreiben es als Ende, die Neue Genfer Übersetzung folgt wiederum der revidierten Einheitsübersetzung. Der späte Luther wollte die Juden wie die spanischen Könige aus dem Land werfen, obwohl für die Juden an sich immer noch das römische Privileg der religio licita galt. Das letzte Judenprogrom fand in Europa 1946 in Kielce statt.