Erinnerung an frühere Leben

Berlin / Geschichte

Ich war noch ein Schüler und auf einer Exkursion des Leistungskurses Geschichte in Berlin. Natürlich war das Olympiastadion auf dem Programm und als wir aus dem Zug stiegen, sah ich die langen Bahnsteige plötzlich voller Menschen. Sie trugen Sommermäntel und elegante Hüte, es war ein Tag mit bedecktem Himmel und einem Hauch von Nieselregen. In Massen strömten Menschen aus den Zügen und die Treppen am Ende der Bahnsteig hinauf. Die Mode erinnerte mich an die Dreißiger Jahre. Es stand mir so klar vor Augen, als wäre es am Vortag desselben Tages gewesen.

In dem jetzt leeren Stadium sah und hörte ich erneut den frenetischen Jubel der Besucher und Besucherinnen unter grauem Himmel. Ich war erschrocken und mich schauderte vor dem Fanatismus, der aufbrandete und sich wie Wellen aufschaukelte. Er, das wusste ich, er, der Führer, war damals anwesend.

Später, während der Exkursion des Leistungskurses, ging der Blick im Stadion in die offene Stelle der Rotunde und auf die schmale Säule des Langemarkdenkmals, das eine sinnlose Schlacht 1914 glorifiziert, in der Zehntausende gefallen waren und die später zu einem Mythos des freiwilligen Opfers der Jugend stilisiert wurde. War mir deswegen das Ganze unheimlich? Wegen dem hypnotischen Sog des Bösen, das das Stadion noch immer ausstrahlt? Oder weil ich plötzlich aus der „normalen“ Welt der Gruppe des Leistungskurses gerissen wurde? Weil es Jahre niemanden gab, dem ich davon hätte erzählen können?

In den Jahren danach habe ich das Bild der Eröffnung der Olympiade 1936 oft versucht einzuordnen, weil der Nieselregen so gar nicht zu den strahlenden sonnigen Fotos von Olympia passen wollte, die Leni Riefenstahl gemacht hatte, geschweige denn zu den heißen Sommern, die ich später aus Berlin gewohnt war. Vielleicht hatte ich auch Angst vor einer Antwort, weil ich so das, was ich gesehen hatte, im Ungefähren lassen konnte. 

Bei sogenannten Rückführungen ist der kritische Punkt, irgendeine Erinnerung mit einem historischen Bild zu verbinden, das der oder die Betreffende nicht kennt oder kennen kann. Gelingt dies, ist das Gesehene plausibel, bleibt das aus, sollte man alles vergessen, es sind dann häufig nur Phantasmen der eigenen Psyche. Manchmal gab es bei anderen angebliche Erinnerungen, die zu nichts führten, einmal auch wiederum Einzelheiten, die entgegen aller landläufigen Annahme zu erstaunlichen historischen Details führten, die so wir beide, ich, der die Rückführung machte, und der andere, nicht wissen konnten.

Irgendwann wollte ich auch bei der Sache mit Olympia mehr wissen, meine Recherche im Internet ergab, was ich gesehen hatte, war außerordentlich präzise, das geschaute Wetter, kühl und ein bisschen Nieselregen, entsprach genau dem der Eröffnung der Olympiade 1936. Als ich den Rechner ausschaltete – ich hatte mehr als vierzig Jahre gewartet, um dieser Sache nachzugehen – ging ein leichter Schauer über meinen Rücken. 

War es doch eine Erinnerung an das Jahr 1936? Niemand könnte mir sagen, ob es meine Erinnerung war, die ich gesehen hatte, oder ob es die eines anderen war, an die ich vielleicht in einem morphogenetischem Feld geraten war. Und wenn es „meine“ war, wer ist derjenige oder diejenige, der oder die reinkarniert wurde, wenn sonst fast nichts vom letzten Leben erinnert wird? Aber wie viele Erinnerungen haben wir wirklich von der frühesten Kindheit? Natürlich nur Bruchstücke, was wir haben sind in der Regel die biografischen Gewissheiten, die durch die Familie vertieft wurden. Könnten wir unsere Kindheit anhand der wenigen Bilder, die erinnert werden, rekonstruieren?

Wer sind wir? Wer sind wir, die wie Unwissende auf einem undurchsichtigen Gewässer treiben, dessen Tiefe wir nicht kennen? Und, was ist das, was wir „Ich“ nennen? Das komische Etwas, was da treibt?

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