Riot Girl des Barocks

Kunst

Mit einigen Bildern sprengt Artemisia Gentileschi, die 1593 in Rom geboren wurde und 1654 in Neapel starb, souverän die ungeschriebenen Grenzen des Barockes. Nicht nur, dass sie Malerin war, was bei avancierteren Sujets höchst ungewöhnlich war, es war vor allem die Art, wie sie Frauen darstellte, die die Grenzen des Barockes sattsam negierte.

Sie war eine erfolgreiche Künstlerin, die in Rom, Neapel, der damals größten Stadt Italiens, und London gelebt hatte. Sie war verheiratet gewesen mit dem Maler Pietro Antonio Stiattesi, dessen Bruder ihr in ihrem Vergewaltigungsprozess beigestanden war. Sie war Mutter von vier Kindern. Später hatte sie neben der Ehe noch ein Liebesverhältnis mit dem besser gestellten Francesco Maria Maringhi, was damals nicht unüblich war und von dem Pietro Antonio Stiattesi wusste.

Nach klassischer Lesart war Artemisia Gentileschi von Agostino Tassi, einem Malerkollegen in ihrer Jugend vergewaltigt worden; ihr Vater, Orazio Gentileschi, der ebenfalls Maler war, hatte dann einen Vergewaltigungsprozess angestrengt. Vergewaltigung konnte nur als gewaltsame Entjungferung seitens des Vaters des Opfers angeklagt werden, der Rang und die Ehre der Braut waren ja gemindert worden, falls sie seitdem ohne intaktes Hymen war. Doch hier lauern weitere Fallstricke, wurde die Ehe versprochen, war damals vorehelicher Sex durchaus nicht unüblich. Wurde dann nicht geheiratet, blieb der Frau nur übrig, ihren Vater zu bitten, einen Vergewaltigungsprozess anzustrengen. Agostino Tassi war bereits verheiratet gewesen, seine Frau hatte ihn allerdings verlassen, er musste damals, falls es doch einvernehmlicher Sex zwischen ihm und Artemisia gewesen sein sollte, sie belogen haben. Es lagen zehn Monate zwischen dem Akt und der Anklage, was das Ganze noch diffuser macht. Ob alles eine gewaltsame Vergewaltigung oder schlichtweg Heiratsschwindel seitens von Tassi war bleibt im Dunkeln.

Wer die Kunst von Artemisia Gentileschi besser verstehen will, muss die historische Scham verstehen. Im letzten Jahrhundert hatte es zwei große Interpretationslinien zu Nacktheit und Scham gegeben, eine von Norbert Elias und eine von Hans Peter Duerr. Während Elias von einer immer weiter fortschreitenden Entwicklung der Scham wie der Kultur ausging, sah Duerr nur eine Wandlung der Scham, die in jeder Kultur nur anders gehandhabt würde. Die jeweilige Scham sei Beobachtern nicht immer sichtbar, Nacktheit müsse nicht zwangsläufig öffentliche Entehrung oder Bereitschaft angestarrt zu werden bedeuten. Erst mit der Zeit offenbare sich dem Fremden der Rahmen dessen, was in einer Kultur als schicklich gedeutet werde.

Der Barock muss, obwohl es eine europäische Epoche ist, manchmal mit den Augen des Ethnologen gelesen werden, will man ihn verstehen. Obszönität und Scham wurden kulturell anders kodiert, Ludwig XIV. etwa ließ sich nach dem Aufstehen in einem täglichen Zeremoniell in Anwesenheit eines erlesenen Personenkreises von königlichen Prinzen oder dem Großkammerherrn nackt die Kleidung reichen. Schamgefühle sind vor allem soziale Konstrukte, die in jeder Epoche und jeder Kultur anders fabriziert werden. Nur der genaue Blick zeigt die Grenzen des Schicklichen in jeder Epoche, das Ungesagte offenbart sich in dem Gesagten. Wenn nackte Männer dargestellt werden sollen orientieren sich männliche Geschlechtsteile bei barocker Malerei und Plastik an der Ausstattung von Kindern und Busen von nackten Frauen sehen häufig wie halbierte Äpfel aus. Wer immer wieder diverse Werke vor Augen hat, muss mut­ma­ßen, diese Zonen möglicher Attraktivität und Individualität wären tabu und jenseits alles Schicklichen.

Artemisia Gentileschi hielt sich durchaus nicht streng an diese Regel. In den Bilder Artemisia Gentileschis sind Frauen erotische Subjekte, die damals diskret nivellierende Scham ist verschwunden, es sind sichtbar weibliche, ansehnliche Körper, die zu der Übertretung reizen, und es ist weibliche Wut, die entschlossen Holofernes enthauptet. Als Frau hatte sie natürlich die Freiheit, weibliche Modelle zu sich zu bitten und die jeweiligen Formen en dé­tail zu studieren. Ob das als Erklärung ausreicht? Oder verließ sie doch die ungeschriebenen Regeln der Schicklichkeit? Läßt die durchaus beharrliche Detailgetreue bei der Darstellung weiblicher Oberweite vor allem im Kontext männlicher Übergriffe und Gewalt sie wie Caravaggio souverän die Grenzen barocker Malerei verlassen? Es sind ja nur Einzelheiten, die Übertretung und Freiheit beinhalten. Aber diese Spuren führen zu einer Souveränität, die lange übersehen wurde.

Die Bilder sind Wikimedia Commons entnommen. Das Bild Die Vergewaltigung der Lucrezia ist seit Sommer 2025 im Neuen Palais in Postdam zu sehen.