Das Insistieren war unangenehm. Warum musste sich der Alte neben mich setzen? Zum Glück war seine zudringliche Hündin unter den Sitz gekrochen.
»Wir haben uns ja schonmal so gut unterhalten« sagte der Alte.
»Wenn sie meinen.«
Die S-Bahn kroch durch furchtbare Neubausiedlungen, kleine kastenförmige Häuser in winzigen, baumlosen Grundstücken.
»Doch.«
Der Alte, so schien es, hatte die unangenehme Art eines Sektierers.
»Wissen sie, wir alle sind jetzt wie Wilhelm II.«
»Was habe ich mit den Hohernzollern zu tun? Trage ich etwa so einen bescheuerten Schnurrbart?«
»Nein, wir leben in derselben Blase aus Hochmut und Dummheit wie der letzte Kaiser am Ende des ersten Weltkrieges.«
»Das Ende des ersten Weltkrieges hat der Kaiser wohl nicht richtig hingekriegt.«
Noch sechs Stationen dachte ich, was für eine Folter.
»Sie wissen ja, wir wollen ja wie der Kaiser bis zum letzten Matrosen, bis zum letzten Ukrainer kämpfen, obwohl der Krieg längst verloren ist.«
Jetzt war ich in der Falle, der Alte war zurück zu seinem Lieblingsthema. Die Hündin schlief glücklicherweise noch immer.




»Wissen sie, schon am 10. August 1918 hatte die Heeresleitung dem Kaiser gesagt, der Krieg sei verloren.«
»Ja und?«
»Dann wurde im Oktober die demokratische Wahl des Reichskanzlers eingeführt, Ludendorf gefeuert, mal versank die Majestät in Depressionen und wurde von der Kaiserin, die eine ideologische Scharfmacherin war, auf Linie gebracht. Am 29. Oktober musste das Auslaufen der heldenreichen Flotte abgesagtwerden, weil es Unruhen an Bord der Schiffe gab. Die Flotte sollte heroisch im Kampf untergehen und die Matrosen meuterten. Fast drei Monate hatte der Kaiser vertrödelt, drei Monate, das ausprobiert, das oder das.«
Wenigstens ist der Alte kein verkappter Faschist, sagte ich mir. Seine Rechthaberei war aber abscheulich.
»Was hat das mit uns zu tun?«
»Die Soldaten in der Ukraine desertieren massenweise, die Regierung hat keine Mehrheit im Parlament und die USA und Frankreich steuern schnurstracks in die Pleite.«
»Putins Truppen sind auch nur ein paar Dutzend Kilometer weit gekommen. Toller Erfolg.«
»Und wir? Putins Schattenflotte stoppen, Gelder in Belgien beschlagnahmen und was weiß ich noch! Sehen sie da nicht die rauchenden Schlote der deutschen Hochseeflotte vor sich?”
Vielleicht war das Gespräch nur eine Erfindung. Oder fand das Gespräch doch statt? Oder hatte es stattgefunden? Vielleicht war der Alte auch nur noch eine Chiffre für eine abseitige Fraktion in dem Parlament meines Kopfes? Jedenfalls hallte in mir die fordernde Rede des Alten.
»Können sie als Laie anhand einer Frontlinie beurteilen, ob ein Stellungskrieg verloren ist? Was ist unsere medial vermittelte Wirklichkeit für ein Lügenhaus, wenn die Ukraine und Europa längst in der Situation wie die Mittelmächte Mitte August 1918 sind, als für die Mittelmächte nichts mehr zu erreichen war? Auch wenn ihre Truppen noch im Sommer bei Amiens, weit in Russland, in der italienischen Tiefebene und kurz vor Griechenland standen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wollen es nicht wissen. So wie man vor zehn oder zwanzig Jahren nicht wissen wollte, was sich alles zusammenbraut.«
Ich sah kurz nach draußen, als wollte ich auf rüde Weise das Gespräch beenden.
»Wilhelm II. hat auch in Spa, wohin er von seinem Neuen Palais in Potsdam aus am 29. November geflohen war, nochmals einen blutigen Feldzug, in dem er Berlin mit der Armee zurückerobern wollte, phantasiert. Und bei uns phantasiert man genauso.«
Der Alte stand auf, ich nahm mein Handy zur Hand.
Wikipedia, das ich aufgerufen hatte, zitierte Admiral Georg Alexander von Müller: »Die Unwahrhaftigkeit im Hauptquartier hat einen Grad erreicht, der nicht mehr zu überbieten ist. Wohin man sieht, Egoismus, Selbstbetrug und Betrug am Mitmenschen.«
Ich sah dem Alten nach, der mit seiner Hündin über den Bahnsteig lief. Vielleicht war es auch nur ein Tagtraum. Die Welt nach dem Sturz des Kaisers aber, nach dem offenbar gewordenen Fiasko in der Ukraine, die neue Leere, die liegt voraus im Nebel.
Wikipedia hat natürlich auch zitiert: Lothar Machtan, Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht. Darmstadt 2018, S. 86. Alle Bilder, Neues Palais Potsdam.