An wenigen Orten wird der Wandel der Zeit als Backlash so offenkundig wie in Wittenberg. Anfang des sechzehnten Jahrhunderts hatte das selbst für damalige Verhältnisse winzige Wittenberg eine frisch gegründete, liberale Universität. 1518 berief der Fürst Friedrich III., der Weise, Melanchthon, einen jungen, brillanten Humanisten, als Dozent. Luther, der Mönch und ebenfalls Professor war, hatte sich ein Jahr zuvor an seinen Bischof mit 95 Thesen über die Kraft der Ablässe gewandt — man versprach ja in der römischen Kirche dass mit Geldspenden Dauer und Qualen der verstorbenen Angehörigen im Fegefeuer gemildert werden könnten. Luther fand keine Antwort. Luther gab den Text an Bekannte weiter, die ihn dann im Oktober 1517 veröffentlichten. Dass Luther sie an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg genagelt habe dürfte eine Legende sein. Ebenso dass damit ein Bruch mit Rom insinuiert war, es ging dem jungen, hageren Mönch um Reform, nicht um Aufstand. Lagen etwa Hoffnung und Aufbruch in der Luft?
Altes Rathaus, s. Anmerkung
Studierzimmer Melanchthon
Stadtkirche, s. Anmerkung
Stadtkirche Wittenberg
Schloß Wittenberg
Schloß Wittenberg
Als nur wenige Jahre später Luther exkommuniziert und Objekt der Machtpolitik der Fürsten geworden war, hatte sich die Welt geändert. Mit Katharina von Bora war Luther eine Vernunftehe eingegangen. Die humanistische Bewegung hatte sich über den zentralen Punkt der Theologie Luthers zerstritten: Dass man dem Menschen keine Fähigkeit Gutes zu tun zuerkennen könne und dass deswegen der Mensch nur auf seinen Glauben hoffen könne. Luthers anfänglich durchaus differenzierte Haltung in den Bauernkriegen war nach der Ermordung des Grafen Ludwig von Helfenstein durch rebellierende Bauern wüster Polemik gewichen, man möge aufrührerische Bauern erschlagen wo immer man sie fände. Nicht nur die Revolte der Bauern, sondern auch die der dämonischen Kräfte bedrohte die junge Ordnung, am 6. Mai 1526 predigte Luther: „Es ist ein überaus gerechtes Gesetz, dass die Zauberinnen getötet werden, denn sie richten viel Schaden an… Also sollen sie getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“
Es ist unmöglich, alles einer Seite zuzuschreiben. Die Welt und insbesondere das zerstrittene Römische Reich deutscher Nation waren in Aufruhr und Angst, trotz der durch Seefahrten und Drogengenuss immens erweiterten Horizonte. Man ängstigte sich vor Dämonen, vor Krankheiten, die durch Lustbarkeiten beim Baden hervorgerufen wurden, vor dem Weltenende und dem Vormarsch der Türken. Es gab im sechzehnten Jahrhundert Schund, der massenhaft verdummend wirkte, gedruckt in unzähligen Pamphleten. Flyer wurden massenweise an Bauern und Handwerker verteilt, weil die neuen Medien des sechzehnten Jahrhunderts einen Overkill an visuellen Botschaften erlaubten. Man erfuhr, der Teufel sei überall, er erschien in den Fratzen der Landsknechte, in den faltigen Gesichtern der alten Frauen, die als Hexen denunziert wurden, wenige Jahre später in dem Papst, den Kardinälen, den Reformatoren, den Wiedertäufern und, last not least, den Juden.
Und auch in der Natur zog Unheil herauf, 1540 war ein heisser Sommer, wie es ihn seitdem nie mehr gegeben hatte (die kleine Eiszeit folgte wenig später): extreme Hitze und außergewöhnliche Trockenheit, die von März bis September dauerte. Manche Flüsse vertrockneten in sengender Hitze. In einem Brief vom 26. Juli 1540 schrieb Luther: „Es ist der Teufel heraußen selber mit neuen bösen Teufeln besessen, brennet und thut Schaden, das schrecklich ist… mehr denn tausend Acker Holz abgebrannt und brennet noch… hilft kein Löschen.“
Möglicherweise gediehen in der Bruthitze in trockenfallenden, stehenden Gewässern giftige Algen. Man fand in Wittenberg Schuldige, die angeblich das Vieh durch Zauber vergiftet hätten, schrieb der Zeitzeuge Luthers Johannes Mathesius: „Zu Wittenberg schmäuchte man auch vier Personen, die an eichenen Pfählen emporgesetzt, angeschmiedet, und mit Feuer wie Ziegel jämmerlich geschmäucht und abgedörrt wurden.“ Auch Lucas Cranach der Jüngere fand die tödliche Folter gut: „Die Gewaltigen oder Oberkeiten sind nicht den die gutes / sunder den die böses thun/ zufürchten / Denn sie tregt das Schwert nicht umb sonst / Sie ist Gottes dienerin/ eine Racherin vber den der böses thut. Vmb viele und manichfeldige böse missethaten willen / sind diese vier Personen / wie abgemalt / am Tage Petri Pauli mit feuer gerechtfertigt worden… dadurch armer Leute schaden vorhut werden müge / Gott der allmechtige behüte alle Christliche hertzen/ vor des Teufels listen anschlegen vnd anfechtungen / Amen.“
Mehr als dreißig Jahre nachdem Wittenberg Zentrum des Aufbruchs gewesen war wurden dort arme, sonderbare Menschen wegen Hexerei verbrannt, ein Drama, das in Wittenberg bis in das späte siebzehnte Jahrhundert dauern sollte: Man suchte und fand Opfer.
Und die Juden möge man aus dem Reich vertreiben, Luthers späte Schrift Von den Juden und ihren Lügen atmet einen Antisemitismus, der kaum erträglich erscheint. Luther starb, schwer und in seinem Urteil unmässig geworden, 1546 in Eisleben, seiner Geburtsstadt.
Die Hexenverfolgung war fast ein gesamteuropäisches Phänomen. Am schlimmsten wütete die Hexenverfolgung in den katholischen Territorien des Hl. Römischen Reiches. Nur in Spanien und Portugal hatte die Inquisition die Hexenverfolgung weitgehend untersagt. Die letzte Hexe wurde 1782 in der Schweiz hingerichtet. Der Textabschnitt über die Druckerzeugnisse ist teilweise Baarucka oder die Gasse der Blinden entnommen. Die Gemälde in der Stadtkirche sind Die Auferwecken des Jünglings zu Nain und Die Darstellung Jesu im Tempel, gemalt von Lucas Cranach dem Jüngeren und/oder Peter Spitzer. Die hier nicht gezeigte umstrittene Plastik der Judensau an der Stadtkirche Wittenberg entstammt dem Spätmittelalter.
Die Aufschrift auf dem Portal des Rathauses lautet: „Fürchte Gott, ehre die Obrigkeiten und sei nicht mit den Aufrührern.“