Fotographische Hyperrealität

Denken / Fotografie / Geschichte

Jeder, der ein neueres Smartphone in den Händen hält und damit mehr als nur seinen Hund, sein Essen oder seinen Geliebten fotografiert, wird die Fotos als irreal empfinden.

Die geringere Tiefenschärfe, wie sie von großformatigen Kameras je nach der gewählten Blende gewohnt war, ist verschwunden (es sei denn sie wird artifiziell bei Portraits durch Software erzeugt). Vordergrund und Hintergrund sind, bedingt durch die Linsengröße, gleich scharf. Es ist, als habe jemand jedes Detail so scharf stellen wollen, dass die Landschaften unwirklich erscheinen, hypernormal und fremd, als wäre es Canalettos Dresden oder Warschau.

Wer diese Stadtansichten vor Augen hat sieht Panoramen die Fotografien gleichen, wären da nicht die dekorativen Armen. In Wahrheit wurden diese extrem detailgenauen und absolut richtig proportionierten Stadtansichten längst durch eine Art fotografischer Apparate, die camera obscura, erzeugt. Sie enthielten im Gegensatz zu den frühen Fotoapparaten nur keine Chemikalien sondern Papier oder Leinwand, auf denen die Proportionen skizziert wurden. In der Spätrenaissance wurde die seit der Antike bekannte camera obscura mit einer Linse versehen, 1686 wurde ein transportables Exemplar gebaut, mit dessen Hilfe von Canaletto, der eigentlich Bernardo Bellotto hiess, fast fotographisch exakte Stadtansichten gemalt wurden. Zuvor hatte man mit Hilfe von mit Fäden erstellten Rastern und exakten Peilstäben Gesichter auf Papier oder als Tonmodell für spätere Marmorarbeiten kopieren können, nun aber wurde es im Barock möglich großflächige Ansichten von Städten, Gebirgen, Kathedralen und Inseln auf Papier zu skizzieren und als Vorlage für Gemälde zu verwenden. Portraits, die seit der Frührenaissance fotographisch genau erscheinen, erhielten jetzt mit Stadtansichten und Naturgemälden ebenso präzise Pendants, die keine Flüchtigkeit und keine Unruhe kennen. Dennoch erscheinen uns diese Bilder unwirklich, weil sie absolute Tiefenschärfe kennen (Vordergrund und Hintergrund sind gleich scharf, detailversessen und präzise ausgeführt). Als wäre das, was wir sehen, eine gesteigerte, unwirkliche und zeitfreie Wirklichkeit, was sie ja auch war, denn in monatelanger Arbeit wurden die Skizzen ausgemalt und dabei alles so genau wie möglich erfasst.

Jetzt kommt diese Ära wieder. Auch wenn Apple bei jeder Präsentation einer neuen Generation von Smartphones Spitzenfotografen die neuen Geräte testen lässt und diese programmgemäß zu Lobeshymnen ausbrechen, sind die Profis in Wahrheit ausgefuchst genug, nur noch das als Motiv zu wählen, was keiner geringen Schärfentiefe bedarf, weil alles andere fremd, übergenau und hypernormal erschiene. Der Rest wird, wie man in Armerika sagt, ein bisschen creepy. Und allmählich für alle Realität.

Vergleichsbilder: entweder Iphone XR oder Olympus Four-Thirds DLSR / Olympus Four-Thirds Systemkamera.