Es gibt Zettel oder Schriftstücke, in denen sich das Elend und die Trostlosigkeit eines einzigen Lebens versammeln, Formulare, die mit einer einzigen Bestätigung Aussichtslosigkeit bescheinigen.
Hier war es ein gelber, zerknitterter Zettel, der sich in einer Jackentasche befand und zutage trat, als ich nach irgendetwas gekramt hatte. Eigentlich hätte das Schriftstück nie überleben dürfen, war doch die alte Kunstlederjacke vorsichtig gewaschen worden, als sie frisch gekauft worden war und noch fast neu aussah. Ich rollte den Papierball auf und sah, dass es ein Formular war, das ich niemanden zuordnen konnte. Das Papier war gelb, die Schift serivenlos und angenehm aufgeräumt, nur die handschriftliche Eintragung erschreckend, weil sie die dreieckigen, harten Unterlängen hatte, die ich von meiner Kindheit aus Bayern kannte, und meistens Ordnung und Disziplin seitens der Schreiber beinhaltete, jene emotional kargen Gestalten also, die das visuell desaströse Nachkriegsdeutschland geschaffen hatten.
Es war ein Antrag auf Fahrpreisermäßigung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Heimen, ausgestellt von der Deutschen Reichsbahn. JW, so kürze ich seinen Namen ab, wohnhaft im Friedrich Ebert Ring 44 in Rathenow, durfte zu seiner Familie nach Brandenburg fahren. Er sei, so war geschrieben, ständig untergebracht. Der Antrag war im November 1985 ausgestellt worden, JW zu der Zeit 41 Jahre alt. Gestempelt war er von der Bezirksnervenklinik und der Reichsbahn. Ich googelte etwas, in der Friedrich Ebert Strasse ist offenbar heute kein Heim, auch war keine Begleitperson in dem Formular vermerkt — war JW in einer Tagesklinik?
War JW seit seiner Jugend psychisch krank und die vermerkte Familie in Brandenburg seine Eltern? Oder war er später ausser Tritt geraten und wohnte in Brandenburg seine Ehefrau? Ich weiß es nicht. JW jedenfalls war in der Blüte seiner Jahre ohne Hoffnung auf Therapie in der Psychiatrie, circa 1.85 gross und sehr schlank, sonst würde mir seine Jacke nicht passen. Stil, denke ich, hatte er auch.
Foto: die Jacke, 2012, fotografiert in Neukölln.